„The Crazies are on the Loose“
MO_symp•sium
— Fluxus global/divers
— 22. – 23. Juni 2023:
Globale Vernetzungen der Fluxus Bewegung und ihre weiblichen Akteur*innen sind beim digitalen Symposiums ins Zentrum der Diskussion gerückt, um so blinde Flecke in der Rezeption und Forschung zu thematisieren. Deshalb sind die g Das Symposium ist Teil des Forschungsprojekts „Fluxus Global/Divers“, welches Ende 2024 in einer Ausstellung münden soll.
PROGRAMM
NETWORKS
Donnerstag, 22.06.2023
FLUXUS GLOBAL
Nicole Grothe
Nicole Grothe ist seit 2011 Leiterin der Sammlung des Museum Ostwall im Dortmunder U, die u.a. ein umfangreiches Konvolut von Werken des Fluxus und verwandter Kunstformen der 1960er und 70er Jahre umfasst. Sie kuratierte u.a. die Ausstellung „Dieter Roth: Schöne Scheiße. Dilettantische Meisterwerke“ (2016) sowie diverse MO_Sammlungspräsentationen (aktuell: „Kunst Leben Kunst. Das Museum Ostwall gestern, heute, morgen“) und publiziert in diesem Kontext in Veröffentlichungen des MO. Seit 2014 kuratiert sie außerdem die Ausstellungen zum MO_Kunstpreis, der jährlich von den Freunden des MO an Künstler*innen verliehen wird, die in der Tradition von Dada und Fluxus arbeiten.
Promote Living Art — Die MO_Fluxus-Sammlung gestern, heute, morgen
Das Forschungsvolontariat „Fluxus global/divers“ am Museum Ostwall (MO) dient dem Ziel, Leerstellen und Blinde Flecken in der MO_Fluxus-Sammlung zu erforschen. Der Vortrag skizziert Umfang und Ausrichtung der MO_Fluxus-Sammlung und ihre Bedeutung im Rahmen von Ausstellungen, Sammlungspräsentationen, Forschungs- und Vermittlungsprojekten.
Fluxus und verwandte Kunstformen aus dem europäischen und US-amerikanischen Kontext bilden einen wichtigen Schwerpunkt in der Sammlung des Museums Ostwall im Dortmunder U. Schon 1970 fand die erste Ausstellung mit Werken des Fluxus statt; bis in die 1980er Jahre folgten Einzelausstellungen von John Cage, Wolf Vostell, Milan Knížák, Allan Kaprow, Joseph Beuys und Arthur Köpcke sowie 2016 eine Präsentation von Werken Dieter Roths. Mit Ankäufen, Schenkungen und Dauerleihgaben, überwiegend aus vier großen Privatsammlungen, wurde die MO_Fluxus-Sammlung in den letzten 50 Jahren sukzessive auf- und ausgebaut. Der 2014 von den Freunden des MO gegründete MO_Kunstpreis dient dem Ziel, die MO_Fluxus-Sammlung zu stärken und um klassische Positionen des Fluxus, aber auch um Werke zeitgenössischer Künstler*innen zu erweitern, die Verbindungen zu den Ideen des Fluxus aufweisen.
Die Fluxus-Sammlung stellt das MO hinsichtlich seiner Aufgaben des Bewahrens einerseits und des Vermittelns andererseits vor Herausforderungen: Wie lassen sich dem Publikum die Ideen und die Bedeutung einer Kunstbewegung vermitteln, die zu großen Teilen auf zeitbasierter Aktionskunst oder der Benutzung von konservatorisch sensiblen Objekten basiert? Hierzu Strategie zu entwickeln, die dem Publikum einen niedrigschwelligen Zugang und Partizipation ermöglichen, ist eines unserer Ziele bei der Arbeit mit der MO_Sammlung.
Eine weitere Aufgabe ist die kritische Reflexion unseres Sammlungsbestands, der überwiegend europäisch und US-amerikanisch sowie männlich geprägt ist. Künstlerische Positionen aus anderen Teilen der Welt sowie Arbeiten von Künstler*INNEN sind weitestgehend unterrepräsentiert, auch im Bereich des Fluxus und verwandter Kunstformen. Das Symposium Fluxus global/divers kann hier Anstöße für eine Erweiterung und Präzisierung der MO_Sammlungsstrategie liefern.
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Sook-Kyung Lee
Sook-Kyung Lee ist als Kuratorin für internationale Kunst an der Tate Modern in London tätig. Sie ist künstlerische Leiterin der 14. Gwangju Biennale (2023, Korea). 2015 war Lee außerdem Leiterin und Kuratorin des koreanischen Pavillons auf der 56. Biennale von Venedig. Sie hat mehrere bedeutende Ausstellungen in der Tate Modern in London kuratiert, darunter „Richard Bell: Embassy“ (mit Helen O’Malley und Odessa Warren, 2023), „A Year in Art: Australia 1992“ (mit Valentina Ravaglia und Tamsin Hong, 2021–23) und „Nam June Paik“ (mit Rudolf Frieling und Valentina Ravaglia, 2019–20).
„Global Groove“ — die Welt als Synthese
Nam June Paik (1932–2006) spielte während seiner gesamten künstlerischen Laufbahn eine Schlüsselrolle als Bindeglied zwischen den unterschiedlichsten Künstler*innen-Gemeinschaften in Asien, Europa und den USA. Das Experimentieren, die Innovation, der Zufall und die Unbestimmtheit standen im Mittelpunkt seines Schaffens – eine Haltung, die er mit seinen Gleichgesinnten auf den drei Kontinenten, auf denen er lebte und arbeitete, teilte. Dieser Vortrag wird sich mit seinem künstlerischen Netzwerk in Südkorea befassen, wo die experimentelle Kunst in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren inmitten sozialer und politischer Umwälzungen ihren Anfang nahm.
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Activating Fluxus:
Hanna Hölling, Aga Wielocha, Josephine Ellis
Hanna B. Hölling ist Forschungsprofessorin an der Hochschule der Künste Bern (HKB) und Honorary Fellow am University College London. In ihrer Forschung und Lehrtätigkeit befasst sie sich mit den künstlerischen und kulturellen Entwicklungen seit den 1960er und 70er Jahren. Darüber hinaus geht sie der Frage nach, wie sich Aspekte von Zeit, Wandel, Materialität und der Archivierung auf unser Verständnis von Kunstwerken als langlebige Objekte auswirken. Höllings Veröffentlichungen umfassen unter anderem „Paik’s Virtual Archive: Time, Change and Materiality in Media Art“ (University of California Press, 2017) und die in Kürze erscheinende Publikation „Performance: The Ethics and the Politics of Conservation and Care“ (herausgegeben mit J.P. Feldman und E. Magnin, Routledge 2023).
www.hannahoeling.com
Aga Wielocha ist Forscherin und Sammlungsbetreuerin im Fachgebiet zeitgenössische Kunst. Derzeit ist sie außerdem als Postdoc-Stipendiatin am Forschungsprojekt „Activating Fluxus“ der Hochschule der Künste Bern (HKB) beteiligt. Sie erwarb ihren Doktortitel an der „Amsterdam School for Heritage and Memory Studies“ der Universität Amsterdam. Für ihre Dissertation forschte sie zu dem Leben und der Zukunft von zeitgenössischer Kunst in institutionellen Sammlungen. Von 2019 bis 2022 arbeitete sie im M+ Museum in Hongkong, wo sie mit der Entwicklung von Dokumentationsstrategien zur Unterstützung einer effizienten Pflege der wachsenden Sammlungen von visueller Kunst, Design, Architektur und Bewegtbild betraut war. Ihr allgemeines Forschungsinteresse gilt den Mechanismen und Prozessen des institutionellen Sammelns und Bewahrens mit dem Schwerpunkt auf prozesshaften zeitgenössischen Kunstformaten wie Kunstprojekten, partizipatorischer Kunst und Performance. Zu diesen Themenschwerpunkten referiert und schreibt sie regelmäßig.
monoskop.org/Aga_Wielocha
Josephine Ellis ist als Doktorandin am Forschungsprojekt „Activating Fluxus“ beteiligt, das vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert und von der Abteilung für Materialität von Kunst und Kultur an der Hochschule der Künste Bern durchgeführt wird. Kürzlich erwarb sie ihren Master in Kunstgeschichte am University College London, wo sie sich auf die Materialität von Kunstwerken und Artefakten aus den 1960er und 70er Jahren sowie auf die visuelle Kultur Südostasiens während des zweiten britischen Empire spezialisierte. Ihr derzeitiges Forschungsinteresse gilt der sich wandelnden Materialität und den multisensorischen Dimensionen von Fluxus-Kunstwerken, insbesondere jenen, die zur intimen Interaktion durch Berührung einladen.
Differenzen zerteilen — Alison Knowles‘ „Identical Lunch“ und das Problem der Kontinuität
Ein Thunfischsandwich aus Weizentoast belegt mit Butter und Salat, ohne Mayo. Dazu eine Tasse Suppe oder ein Glas Buttermilch. Das sind die Zutaten für „Identical Lunch“ (1967), eine von Alison Knowles’ bekanntesten Event-Scores (dt. Event-Partituren), die aus der Einladung besteht, jede Woche am gleichen Ort und zur ungefähr gleichen Zeit das gleiche Mittagessen zu sich zu nehmen.
So einfach diese Anweisung auch scheinen mag, kann das Gericht niemals wirklich „identisch“ zubereitet werden. Dies liegt zum einen daran, dass die von Knowles vorgegebenen Zutaten jedes Mal aufs Neue eingekauft werden müssen. Zum anderen wird Knowles’ ursprüngliche Idee aufgrund der unterschiedlichen Lebensrealitäten der Performer*innen unweigerlich in deren jeweiligen Kontext übertragen – eine Tatsache, die durchaus komplexe Fragen aufwirft.
Als Event-Score basiert „Identical Lunch“ auf der operativen Logik der musikalischen Notation, was impliziert, dass es sich bei jeder einzelnen Performance um eine gleichwertige Interpretation von Knowles’ Kunstwerk handelt, wobei der Grad der interpretatorischen Freiheit variiert. Die Parameter, innerhalb derer die Abweichungen auftreten, sind allerdings mitunter schwer auszumachen. Was, wenn es, wie Knowles erfahren musste, in Deutschland kein Vollkornbrot gibt, oder das Thunfischsandwich in Asien durch eine regionale Tofusuppe ersetzt wird? Handelt es sich noch um dasselbe Kunstwerk oder sollten die beiden Ausführungen als zwei eigenständige Adaptionen betrachtet werden? Was, wenn die Künstlerin nur bestimmte Abweichungen zulässt, oder wenn sich ihre Vorgaben im Laufe der Zeit ändern? Spüren wir der Identität dieses Werks nach, stellt sich die Frage, ob wir die Differenz nicht als ein produktives Element von Knowles’ Anweisung betrachten können, statt als defizitären Faktor.
Ausgehend von der anhaltenden Beschäftigung der Autorin mit „Identical Lunch“ beleuchtet dieser Beitrag einige der Herausforderungen dieses wandlungsfähigen Kunstwerks, das durch die Übertragung in verschiedene Kulturen, Räume und Zeiten überhaupt erst entsteht. Darüber hinaus wird die Frage aufgeworfen, welche allgemeinen Implikationen dies für die Kontinuitäten von Fluxus im weiteren Sinne hat.
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On Tuna Fish Sandwiches and Grapefruits: Activating Fluxus at FLUXUS GLOBAL / DIVERS
Eva Bentcheva
Eva Bentcheva ist Kunsthistorikerin und Kuratorin. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind transnationale Archive, Konzeptkunst, Performance und Partizipationskunst in Süd- und Südostasien sowie in Europa. Derzeit ist sie Lehrbeauftragte am Heidelberger Centrum für Transkulturelle Studien der Universität Heidelberg, wo sie zum Thema „Fluxus-Resonanzen in Südostasien“ forscht. Außerdem ist sie Postdoktorandin und Publikationskoordinatorin für das internationale Forschungsprojekt „Worlding Public Cultures: The Arts and Social Innovation“. Sie promovierte in Kunstgeschichte an der School of Oriental and African Studies (SOAS) der University of London. Zuvor war sie unter anderem tätig als Forscherin für das „Tate Research Centre: Asia“, als Postdoctoral Research Fellow am „Paul Mellon Centre for Studies in British Art“ und als Goethe-Institut Fellow am Haus der Kunst in München, wo sie die Ausstellung „Archives in Residence: Southeast Asia Performance Collection“ (2019) mitkuratierte. 2022 war sie Mitherausgeberin einer Sonderausgabe der Fachzeitschrift „Southeast of Now: Directions in Contemporary and Modern Art“ zum Thema „Pathways of Performativity in Contemporary Art of Southeast Asia“.
Fluxus auf den Philippinen — „Resonanzen“ und Übersetzungen
Jüngste Studien über Fluxus in Osteuropa, Lateinamerika und Ostasien haben gezeigt, dass der Einflussbereich dieser Bewegung geografisch weit größer war, als bisher oft angenommen. Im Gegensatz zum ostasiatischen Raum, wo die Fluxus-Akteurinnen eng vernetzt waren, wurde den Fluxus-Aktivitäten in Südostasien bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Hierhin gelangten die Fluxus-Praktiken und -prinzipien vor allem über das, was die Kunsthistorikerin Reiko Tomii als „Resonanzen“ (2016) bezeichnet.
In diesem Beitrag wird erörtert, wie Fluxus in Südostasien zwischen den 1960er und 1980er Jahren durch persönliche Kontakte, fragmentarische Dokumentationen, Publikationen und Schenkungen Verbreitung fand. Im Vordergrund der Betrachtung stehen dabei die Übertragungswege des Fluxus auf den Philippinen – einem Land, in dem es trotz der Diktatur von Präsident Ferdinand Marcos (1968–86) eine blühende konzeptionelle zeitgenössische Kunstszene gab. Die „Resonanz“ von Fluxus wird anhand zweier Künstler*innen untersucht: David Cortez Medalla (1942–2020), der während seiner Aufenthalte in Frankreich und Großbritannien zwischen den 1960er und 1980er Jahren mit Fluxus-Akteur*innen und -Ideen in Berührung kam, und Judy Freya Sibayan (1953–), die in den 1970er Jahren in Manila bildende Kunst studierte und durch ihre Mitstudierenden sowie durch Erzählungen und Dokumente auf bestimmte Fluxus-Praktiken aufmerksam wurde. Anhand von Beispielen aus ihrem Schaffen wird dargelegt, dass die Philippinen – und Südostasien im Allgemeinen – kein säumiger „Außenposten“ der Fluxus-Netzwerke waren. Vielmehr handelt es um einen Ort, an dem die spielerischen Experimente, der Austausch, die kollektive Autor*innenschaft und die poetischen Gesten von Fluxus als Teil einer postkolonialen Vision aktiv „übersetzt“ (Mignolo & Walsh, 2018) wurden, um sich mit dem zu identifizieren, was der Künstler Robert Filliou als das „ewige Netzwerk“ (1967) der experimentellen Kunst jenseits nationalstaatlicher und institutioneller Gefüge bezeichnete.
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Dr. Midori Yoshimoto
Midori Yoshimoto ist Professorin für Kunstgeschichte an der New Jersey City University in Jersey City (New Jersey, USA) deren Kunstgalerie sie außerdem leitet. Nach dem Erwerb ihres Bachelor an der Osaka University erhielt sie ein Stipendium der Rotary Foundation und zog in die Vereinigten Staaten. 2005 veröffentlichte sie ihre Dissertation“ Into Performance: Japanese Women in New York“, die sie 2002 an der Rutgers University fertiggestellt hatte. Yoshimoto hat zudem zahlreiche Essays für japanische Ausstellungskataloge verfasst, darunter „Japanese Women Artists in Avant-garde Movements, 1950–1975″(Tochigi Prefectural Art Museum, 2005), „Dissonances“ (Toyota Municipal Museum of Art, 2008) sowie „Ay-O: Over the Rainbow Once More“ (Museum für zeitgenössische Kunst, Tokio, 2012). Ihre Veröffentlichungen in englischer Sprache umfassen verschiedene Beiträge zu „Yes Yoko Ono“ (Japan Society und Abrams, 2000), in „Yoko Ono One Woman Show „(MoMA, 2015), „Fluxus Nexus: Fluxus in New York and Japan“ (post.at.moma.org, 2013), „Limitless World: Gutai’s Reinvention in Environment Art and Intermedia“ (Gutai: Splendid Playground, Guggenheim Museum, 2013), „From Space to Environment: The Origins of Kankyō and the Emergence of Intermedia Art in Japan“ (CAA Art Journal, Herbst 2008), die Sonderausgabe „Women and Fluxus“ der Zeitschrift Women and Performance (Gastherausgeber, Routledge, Nov. 2009) und die Sonderausgabe „Expo ’70 and Japanese Art“ der Josai Review of Japanese Society and Culture (Gastherausgeberin, 2012). 2021 wurde die von ihr mitkuratierte Wanderausstellung Viva Video! The Art and Life of Shigeko Kubota“ an drei Museen in Japan gezeigt und mit dem Ringa Art Prize ausgezeichnet. Ebenfalls 2021 wurde das von ihr mit herausgegebene Buch „Women, Aging, and Art: A Crosscultural Anthology“ bei Bloomsbury veröffentlicht.
Fluxus Nexus: Japanische Künstlerinnen und Fluxus
Fluxus ist ein herausragendes Beispiel für eine frühe transnationale Kunstbewegung, die sich aus Strömungen in den Vereinigten Staaten, Europa und Japan speiste. Bemerkenswerterweise waren zahlreiche japanische Künstler*innen in der Fluxusbewegung aktiv, darunter Kuniharu Akiyama, Ay-O, Toshi Ichiyanagi, Takehisa Kosugi, Shigeko Kubota, Yoko Ono, Takako Saito, Mieko Shiomi, Yasunao Tone und Yoshimasa Wada. Durch ihre häufigen Reisen und ihre rege Korrespondenz verbanden diese Künstler*innen die Avantgarde-Gemeinschaften in Tokio und New York miteinander. Darüber hinaus ließen sie die neuesten künstlerischen Entwicklungen aus Japan in ihre Fluxuskonzepte und -veranstaltungen einfließen.
Der Großteil der Literatur über Fluxus konzentriert sich auf die US-amerikanischen und europäischen Akteur*innen der Bewegung, während die Beiträge der japanischen Künstler*innen kaum gewürdigt werden. Dieser Beitrag konzentriert sich auf die vier japanischen Künstlerinnen Kubota, Ono, Saito und Shiomi und auf ihre Rolle als Impulsgeber*innen für den transpazifischen Kunstaustausch eingehen. Zugleich werde ich einige der geschlechtsspezifischen Fragen beleuchten, die Einfluss auf die Rezeption dieser Künstlerinnen im globalen Kontext hatten.
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Laura Bösl
Laura Caroline Bösl (*1989 in München) studierte Kunstgeschichte und Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit einem wissenschaftlichen Schwerpunkt in der Kunst der 1960er Jahre bis zur Gegenwart. Ihr wissenschaftliches Volontariat hat sie am Museum Ulm absolviert.
Bösls Ausstellungsprojekte umfassen u. a. „FLUXUS“ (Museum Ulm) und „FLUXUS DESIGN“ (Galerie Ben & Michael Hasenclever, München). Derzeit ist sie Sammlungskuratorin des „NOARTCOLLECT“ in Ulm, wo sie u. a. Ausstellung „FLUXUS. New York and Elsewhere“ (Gutshaus Steglitz, Berlin) mitkuratierte.
Fluxus-Editionen — Kollektive Autor*innenschaft und globaler Austausch
Fluxus verstand sich als weltweit agierendes Netzwerk mit dem Ziel neue kollektive Lebensformen zu schaffen. Dessen Begründer George Maciunas (1931-1978) konzipierte und organisierte nicht nur die künstlerischen Aktivitäten der Gruppe, sondern war Herausgeber und Gestalter zahlreicher Fluxus-Editionen. Sein Ziel war eine Demokratisierung des Kunstbetriebs. Ein Großteil der herkömmlichen Institutionen in Form von Museen, Theatern und Konzertsälen sollte abgeschafft, Kunstwerke urheberrechtlich geschützt sowie seriell und kostengünstig produziert werden.
Bereits ab den späten 1950er Jahren arbeitete Maciunas als Grafiker und hatte sich in seiner Wohnung eine Werkstatt eingerichtet. 1961 begann er, die Produkte für Fluxus selbst zu gestalten. Ausgehend von der Visitenkarte sollte jegliches Design so kostengünstig wie möglich umgesetzt werden. 1962 gründete er die „Fluxus Editions“, ein ambitioniertes Verlagsprogramm mit dem Ziel erschwingliche, mehrteilige Publikationen und Multiples herzustellen, die revolutionäre Kunst in den Alltag bringen und die experimentellen Ideen der Gruppe auf internationaler Ebene bekannt machen sollten. Zahlreiche Fluxus-Editionen wurden produziert, darunter Sammelanthologien oder Jahrbücher und Werke einzelner Künstler*innen, die für den Versand oft originell konstruiert wurden. Die Ausgaben spiegeln einen interdisziplinären und spielerischen Ansatz wider.
Für die „Fluxus Editions“ holte Maciunas bei den Künstler*innen Konzepte ein. Im Anschluss gestaltete er die Produkte oftmals selbst und vereinheitlichte so ihr Erscheinungsbild. Der Fokus auf Simplizität in Gestaltung und Ausführung und die damit einhergehende konzeptuelle Erkundung von Wörtern und Gesten, welche wesentlich für die Aktionen waren, setzte sich bei den Fluxus-Editionen fort. So stand – neben der kollektiven Autorschaft – die Spannung zwischen Material und Konzept im Vordergrund. In Grafik und Text schlagen viele Fluxus-Editionen Aktionen oder Ideen vor und sollten aktiv benutzt werden. Die Objekte, welche meist in kleinen Schachteln oder Boxen untergebracht waren, zirkulierten global unter den Künstler*innen und katalysierten den Diskurs überexperimentelle Praktiken.
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Alexa Dobelmann
Alexa Dobelmann studierte Kunstgeschichte und Geschichte in Stuttgart und Siena. In ihrer Abschlussarbeit widmete sie sich der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama und untersuchte in deren Œuvre den Punkt als Markenzeichen. Derzeit hat sie eine Stelle als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Staatsgalerie Stuttgart inne. Im Rahmen ihrer Promotion an der Universität Stuttgart forscht sie zu Fluxus-Netzwerken ausgehend vom Archiv Sohm.
Von Markgröningen nach Japan und zurück — Schnittstellen eines speziellen Netzwerkes
Aus der schwäbischen Provinz heraus korrespondierte der Fluxus-Sammler Hanns Sohm mit einem globalen Netzwerk von Fluxus-Akteur*innen. Der Vortrag im Rahmen von „Fluxus global/divers“ soll einen Fokus auf Sohms Verbindungen Richtung Japan legen. Trotz Sprachbarriere und ohne jemals selbst in Japan gewesen zu sein, gelang es dem Zahnarzt über kontinuierliche Briefkontakte an Informationen, Materialien und weitere Adressen zu gelangen. Durch die Kölner Fluxus & Happening-Ausstellung 1970 entstand ein beidseitiger Austausch zwischen Sohm und der in Osaka lebenden Mieko Shiomi. Der Kontakt zur teils nomadischen Künstlerin Takako Saito erfolgte direkt oder über gemeinsame Bekannte wie David Mayor und Erik Andersch.
Diese Knotenpunkte in Sohms Fluxus-Netzwerk verdeutlichen, dass der Austausch zwischen Markgröningen und Japan produktiv war, und nicht bloß zur Akkumulation von Information im Stuttgarter Umland beitrug: Sohm nahm auf die künstlerische Produktion Einfluss und war Teil der Entstehungsprozesse von Kunstwerken, die er im Archiv Sohm anschließend dokumentierte. Er beteiligte sich am kollaborativen Prozess der Spatial Poems von Shiomi und wurde im Gegenzug mit Unterschiedlichstem für seine „shiomi file“ versorgt. Saito bat Sohm um kritische Anmerkungen zu ihren Werken, besuchte ihn mindestens einmal in seinem Zuhause und er schloss zu ihrer Unterstützung ein Kunstwerkabonnement ab. Sohms Anstrengungen, Kunst in Japan sowie der japanischen Akteur*innen, zusammenzutragen und dies akribisch zu dokumentieren ermöglicht heute einer Öffentlichkeit eine parallele und gleichwertige Anschauung der Bestände von Akteur*innen, die an unterschiedlichen Standorten tätig waren. Das Archiv Sohm stellt ein – afrikanische Staaten ausgenommen – globales Netzwerk dar, das in seiner vielfältigen und diversen Ausrichtung Hierarchien nivelliert. Folglich ist Sohms Blick aus dem schwäbischen Dorf in die Welt und nach Japan ein herausragender Knotenpunkt des globalen Fluxus-Netzwerks. Durch seine Eingriffe erweitert er das Verständnis eines Archivars und Sammlers und geht über die reine Tätigkeit des Sammelns und Dokumentierens hinaus.
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Caterina Lazzarin
Caterina Lazzarin stammt aus Venedig, wo sie einen Bachelor in „Conservation of Cultural Heritage“ und einen Master in Kunstgeschichte erworben hat. Anschließend spezialisierte sie sich auf zeitgenössische Kunstgeschichte und Kunstvermittlung. Dabei forschte sie nach neuen Strategien, um Publikum und Kunst in Kontakt zu bringen. Lange Zeit war sie aktiv im Bereich der Kunstvermittlung und des gesellschaftlichen Engagements, wobei sie sich insbesondere für Barrierefreiheit und Zugänglichkeit von Museen einsetzte. Im Oktober 2021 begann sie ihre Promotion an der Universität Duisburg-Essen. In ihrer Forschung beschäftigt sich Lazzarins mit der sozialen Funktion von Museen der Weltkulturen, und der Frage, wie deren Wirkung sich messen lässt.
Italiens Beitrag zu Fluxus
Italien war ein derart wichtiges Drehkreuz für die Verbreitung des Fluxus, dass es zu einer Art zweiten Heimat für viele Fluxus-Künstler*innen wurde. Dieser Beitrag befasst sich mit der Geschichte von Fluxus in Italien und geht dabei insbesondere auf die Produktion von Kunsteditionen ein, die prägend für die künstlerische Bewegung waren. Multiples, Künstlerbücher und Grafiken wurden in Italien von Fluxus-Künstlern wie Joseph Beuys, George Brecht, John Cage, Eric Andersen und vielen anderen realisiert. Derartige Editionen erwiesen sich dank ihrer niedrigen Produktionskosten und ihres einfachen Vertriebs als strategische Möglichkeit für die Verbreitung der Fluxus-Bewegung. Editionen sorgten für eine größere Zugänglichkeit und für eine Demokratisierung der Kunstwerke: Das Kunstwerk löst sich von seinem auratischen Wert als Einzelobjekt , wodurch sich die Rezeption durch das Publikum verändert.
Der Beitrag stellt die italienische Galeristin und Verlegerin Rosanna Chiessi (1934–2016) vor, die die Fluxus-Bewegung in Italien mit ihrem Verlag „Pari&Dispari Editori“maßgeblich vorantrieb. Sie war eine wegweisende Figur – nicht nur für Fluxus, sondern auch für die italienische Konzeptkunst, die visuelle Poesie und die darstellenden Künste. Chiessis Archiv, das Zeitdokumente aus fünfzig Jahren Fluxusbewegung enthält, ist nach wie vor eine wichtige Quelle für die Erforschung von Fluxus in Italien. Ihre weibliche, kreative und hingebungsvoll-revolutionäre Haltung verkörperten eine Kunst und ein Leben ohne Grenzen. Abschließend bietet der Vortrag einen Überblick über das heutige Erbe von Fluxus in Italien. 2022 feierte das „FLuXuS Internationale FesTsPiELe NEUEsTER MUSiK Festival“ in Wiesbaden seinen 60. Jahrestag – sechzig Jahre voller nonkonformistischer Experimente, Forschung und Interdisziplinarität. Anlässlich dieses Jubiläums gab es auch in Italien zahlreiche Feierlichkeiten zu Ehren der Fluxus-Bewegung. Der Beitrag gibt einen Überblick über diese Hommagen, die deutlich machen, dass das Interesse an der Bewegung immer noch lebendig und hochaktuell ist.
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Christina Danick / Stefanie Weißhorn-Ponert
Christina Danick ist seit 2021 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Dortmunder U und seit 2023 Kuratorin am Museum Ostwall. Zuvor arbeitete sie als kuratorische Assistentin bei Urbane Künste Ruhr. Sie hat Kulturwissenschaften, Kunstgeschichte und Medienwissenschaft in Hildesheim, Berlin und Paris studiert.
Stefanie Weißhorn-Ponert ist Kunsthistorikerin und seit 2019 Kuratorin am Museum Ostwall im Dortmunder U, wo sie Ausstellungen zur modernen und zeitgenössischen Kunst kuratiert. Zuvor absolvierte sie ein wissenschaftliches Volontariat am Stadtmuseum Düsseldorf und arbeitete als freie Kunstvermittlerin. Ihr Studium der Kunstgeschichte, Klassischen Archäologie und Romanistik an den Universitäten Bonn und Glasgow hat sie mit einem Master of Arts abgeschlossen.
„Nam June Paik: I expose the music“ — Transnationale Aspekte in Paiks Performances
In Nam June Paiks Werk ist der Dialog zwischen Ausstellung und Aufführung ein durchgehender roter Faden. Musik und Performance waren für ihn immer sowohl Rahmen wie inhaltlicher Bezugspunkt und ein ständiger Antrieb. Die Ausstellung „Nam June Paik: I Expose the Music“ (17.03. bis 27.08.2023) des Museum Ostwall, die ein Anlass für das Symposium war, widmet sich der bahnbrechenden Rolle des Künstlers auf dieser speziellen Gratwanderung zwischen Kunst, Performance und Musik getreu seines Manifests von 1963: „Ich habe aufgehört, die Musik aufzuführen, ich stelle die Musik aus.”
Ausgehend von der Recherche zur Ausstellung und der darin präsentierten Werke wirft der Beitrag einen Blick auf transnationale Aspekte in Paiks Performances. Nicht nur arbeitete er mit anderen Künstler*innen über Ländergrenzen hinweg zusammen und trat international auf, sondern brachte in seine Performances Rituale sowie Gegenstände aus verschiedenen kulturellen Zusammenhängen ein, um daraus sein eigenes performatives Repertoire zu schaffen.
Nam June Paik (1932–2006), geboren im heutigen Südkorea, hat nach seinem Studium in Japan den größten Teil seines Lebens in Deutschland und den USA verbracht. Seine Kunst, die sich aus östlichen wie westlichen Philosophien und Traditionen speist, überwindet spielend nationale Grenzen und feiert zugleich kulturelle Differenzen. Die Ausstellung präsentiert rund 100 Installationen, Skulpturen, Audio- und Videoarbeiten, Partituren, Handlungsanweisungen und Konzepte. Sie alle stellen den traditionellen Musikbegriff radikal in Frage und veranschaulichen zugleich, wie das Publikum Paiks Performances unmittelbar erlebte und aktiv einbezogen wurde – ob im Galerieraum oder in der Live-Fernsehübertragung.
Entsprechend kultivierte Paik eine Praxis der Kollaboration mit Gleichgesinnten wie Joseph Beuys, John Cage, Charlotte Moorman, Dieter Roth oder Karlheinz Stockhausen. Die erstmals in Deutschland gezeigte sound- und raumfüllende Videoinstallation „Sistine Chapel“ (1993/2019) ist Höhepunkt der Ausstellung sowie eine Zusammenfassung seines gesamten Oeuvres – und als Remix einer Paik-spezifischen Pop- und Kulturgeschichte ein frühes Beispiel multimedialer Immersion.
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Vuk Vuković
Vuk Vuković ist Doktorand im Fachbereich Kunst- und Architekturgeschichte sowie Film- und Medienstudien an der Universität von Pittsburgh. Er arbeitet an der Schnittstelle zwischen moderner und zeitgenössischer Kunst, wobei er eine globale Perspektive einnimmt und den Schwerpunkt auf Fragen der Methodologie und Geistesgeschichte legt. In seiner Dissertation untersucht er Ausstellungmodi zeitbasierter Medien, die Geschichte der Videokunst und das Werk von Nam June Paik.
Nam June Paik und die transnationalen Netzwerke der Videokunst
1973 schlossen sich der Videokünstler Nam June Paik und der Ingenieur John Godfrey zusammen, um „Global Groove“ zu realisieren, eine Videoarbeit zum Thema der globalen Kommunikation. Paik kombinierte Aufnahmen von Charlotte Moorman, John Cage, Allen Ginsberg sowie traditionellen koreanischen und Navajo-Musiker*innen mit Bildern des Stepptanz, Burlesque und Tänzen nigerianischer Zeremonien. Hinzu kamen außerdem TV-Ausschnitte, wie einem japanischen Coca-Cola-Werbespot und einem Nachrichtenbeitrag über Präsident Nixon, um ein „global village“ zu schaffen – ein Begriff, der 1963 von Marshall McLuhan geprägt wurde. Sein Essay zeichnet die Hypermobilität der sozialen und institutionellen Netzwerke nach, auf die Paik und andere Fluxus-Künstler*innen wie Charlotte Moorman, Yoko Ono und Shigeko Kubota bei der Verwirklichung ihrer transnationalen Projekte zurückgriffen. Von seinem bahnbrechenden Werk „Global Groove“ (1973) über „Good Morning, Mr. Orwell“(1984) bis hin zu „Bye Bye Kipling“ (1986) schmiedete Paik mit Hilfe der Videokunst ein visuelles Netzwerk, das sich über Asien, Europa und Nordamerika erstreckte. Anhand seiner utopischen Versuche, ein weltweites Kommunikationsnetzwerk zu schaffen, demonstriert dieser Beitrag, inwiefern Paik ein Modell für transnationales Kunstschaffen lieferte, in dessen Mittelpunkt die Videokunst als persönliches, für alle zugängliches visuelles Instrument steht. Mittels der in diesem Beitrag verwendeten Materialien und Methoden wird eine bisher unerzählte Geschichte der Videokunst beleuchtet. Außerdem werden die institutionellen und sozialen Netzwerke aufgezeigt, die Fluxus-Künstler*innen, insbesondere Frauen und Künstler*innen of Color, nutzten, um ihre Arbeiten zu realisieren und auszustellen. Anhand von seltenem Archivmaterial und mündlichen Interviews mit wichtigen Akteur*innen, die in der Frühzeit der Videokunst an diesen Projekten beteiligt waren, wird dieser Beitrag die Netzwerke aufzeigen, die von der allgemeinen Kunstgeschichte bislang vernachlässigt wurden. Das Erschließen dieser transnationalen Netzwerke leistet einen Beitrag zu aktuellen Trends in der Kunstgeschichtsforschung, die traditionelle kunsthistorische Ansätze mit regressiven und essentialistischen Vorstellungen von nationaler Identität zu überwinden suchen
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John Damstra
John Damstra arbeitet als Verwalter für die Beratungsagentur „AWG Art Advisory“, die Sammler*innen beim Aufbau und der Verwaltung von Sammlungen zeitgenössischer Kunst begleitet.
Zuvor war er als Galeriemanager für „David Tunick, Inc.“ tätig, einem Kunsthandel für Kupferstiche und Papierarbeiten alter Meister. 2020 erwarb Damstra seinen Master-Abschluss in Kunstgeschichte am Williams College und absolvierte Praktika am Williams College Museum of Art und am Philadelphia Museum of Art.
Bevor er sich für eine Laufbahn in der Kunst entschied, erwarb er einen Bachelor in Wirtschaft und Mathematik am Williams College und arbeitete als Forschungsanalyst beim Internationalen Währungsfonds.
Das „Exotische“ auf dem Röhrenbildschirm — „Global Groove“ bis „Vaporwave“
In Überblickswerken zur Kunst des 20. Jahrhunderts wird gewöhnlich der heterogene und globale Charakter von Fluxus hervorgehoben. Die Gruppe ist einzigartig, sowohl hinsichtlich der nomadischen, weltenbummelnden Haltung ihrer Schlüsselfiguren als auch hinsichtlich der zentralen Rolle, die das Konzept des Netzwerks für die Ästhetik der Bewegung spielt. Fluxus ist daher ein besonders wichtiger Forschungsgegenstand für Wissenschaftler*innen und Kurator*innen, denen daran gelegen ist, antihegemoniale und dekoloniale Strategien sichtbar zu machen. Eine Leitfrage könnte hier lauten, inwiefern sich die transnationale Identität von Fluxus – insbesondere was asiatische spirituelle Traditionen und globale Indigenität anbelangt – in den formalen Inhalten seiner Kunstwerke widerspiegelt. Die Bedeutung der Zen-Philosophie für die Fluxus-Kunsttheorie stand lange im Mittelpunkt des Interesses der Wissenschaftler*innen, jedoch wurde bislang vergleichsweise wenig untersucht, wie sich Konzepte des „Orients“ oder des „Ostens“ formal in der Kunstproduktion manifestierten und welche ideologische Funktion diesen formalen Elementen zukam, und zwar sowohl in nicht-programmatischen Musikstücken als auch in frühen Beispielen der digitalen Kunst. Diese Thematik wird anhand einer Befragung und Analyse der primären Musikquellen der „Fourth World Music“ von Jon Hassell und La Monte Young sowie der im Fernsehen übertragenen Videoarbeiten von Nam June Paik beleuchtet. In diesem Kontext wird die These aufgestellt, dass die utopische Vision dieser Ästhetik auf einer Dialektik zwischen Atavismus und Futurismus beruht. Um diesen Punkt zu verdeutlichen, wird ein Vergleich zwischen Fluxus und der paneuropäischen orientalistischen Kunstbewegung des 19. Jahrhunderts aufgestellt. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass Fluxus und der Orientalismus sich sowohl hinsichtlich der verwendeten Medien als auch der kritischen Perspektive, die ihrer jeweiligen Ästhetik und Ideologie zugrunde liegt, stark voneinander unterscheiden. Was die beiden Bewegungen jedoch verbindet, ist die Überzeugung, dass ein globaler Blick auf breitere geografische Zusammenhänge das Potenzial birgt, die eigene kulturelle Umgebung zu erweitern. Das Beispiel Fluxus macht deutlich, dass sich dieses emanzipatorische Versprechen nicht einfach auf eine Logik der Unterdrückung, des Andersseins und der Ausbeutung reduzieren lässt. Der Beitrag schließt mit einer Betrachtung jener zeitgenössischen Bewegungen, die die ästhetischen Ziele von Fluxus heute weitertragen, etwa die „Netart“ und „Vaporwave“.
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Freitag, 23.06.2023
FLUXUS DIVERS
Anna-Lena Friebe
Anna-Lena Friebe (M.A.), geb. 1994, studierte „Kulturanalyse und Kulturvermittlung“ mit dem Schwerpunkt Kunstwissenschaften an der Technischen Universität Dortmund. Ihr Fokus lag dabei vor allem auf digitalen Vermittlungsformaten, dieses Interesse erweiterte sie durch den Zertifikatslehrgang zum „Digital Curator“. Seit Januar 2023 ist sie als Volontärin am Museum Ostwall im Dortmunder U im Rahmen des Programms „Forschungsvolontariate Kunstmuseen NRW“ (gefördert vom Land Nordrhein-Westfalen) für das Forschungsprojekt “Fluxus global/divers” zuständig und forscht dabei in der Sammlung des Museums.
Warum FLUXUS GLOBAL? Warum FLUXUS DIVERS?
Linda Nochlin formulierte bereits 1971 – somit fast zehn Jahre nach den ersten Fluxus Konzerten – in ihrem Essay “Why Have There Been No Great Women Artists”, dass die angeblich neutrale, wissenschaftliche Forschung aus einem westlichen, weißen und männlichen Blick agiert, die viele Positionen nicht berücksichtigt. Sie sah es in der Aufgabe von Institutionen, Veränderungen herbeizuführen und eine feministische Kunstgeschichte durch Präsenz in den Sammlungen, Ausstellungen und Diskursen zu etablieren.
Das Museum Ostwall hat sich in dieser Aufgabe angenommen und wirft mit dem Forschungsprojekt „Fluxus global/divers“ einen Blick auf die Fluxus-Bewegung und ihre durch Rezeption, Sammlung und Wissenschaft unterrepräsentierten Positionen und Akteur*innen. Als Ankerpunkt der Forschung dient die Fluxus-Sammlung des Museum Ostwall im Dortmunder U, die u.a. durch Ankäufe aus der Sammlung Wolfgang Feelischs und Dauerleihgaben aus der Sammlung Herrmann Brauns (heute: Sammlung Braun/Lieff) geprägt ist und so ein Zeugnis der zeitgenössischen Sammlungsaktivitäten seit den 1960er und 70er-Jahren darstellen.
Der Vortrag soll erste Erkenntnisse anhand von Positionen, die in Verbindung mit Fluxus stehen, vorstellen und einen Einblick in das Forschungsvorhaben vermitteln. Dafür sollen die Zeitschrift „Womens Work“ (1975) mit Beiträgen von Alison Knowles, Mieko Shiomi, Bici Hendricks und weiteren Künstlerinnen, sowie die peformativen Arbeiten von Marta Minujín im Fokus der Präsentation stehen und als erste Funde den Forschungsstand des Projekts vorstellen sowie die Relevanz des Forschungsvorhabens diskutieren will.
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Franziska Koch
Franziska Koch ist Dozentin für Transkulturelle Studien an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Ihr Habilitationsprojekt über Nam June Paik und transkulturelle Zusammenarbeit in der Fluxusbewegung wird durch ein Stipendium der Baden-Württemberg Stiftung gefördert. Sie ist Mitherausgeberin von „Negotiating Difference: Contemporary Chinese Art in the Global Context“ (2012) und Verfasserin von „Die ‘chinesische Avantgarde’ und das Dispositiv der Ausstellung“ (2016). Darüber hinaus ist sie Herausgeberin von „How We Work Together: Ethics, Histories, and Epistemologies of Artistic Collaboration“, eine Themenausgabe des „Journal of Transcultural Studies“ (2020/21). Sie ist eine der Leiter*innen des am transatlantischen Forschungsprojekt „Worlding Public Cultures: the Arts and Social Innovation“ (2019–2023; BMBF/DLR) beteiligten Heidelberger Teams. Ihr Chapbook „Worlding Love, Gender and Care. Shigeko Kubota’s ‘Sexual Healing’ „wird im Sommer 2023 bei „ici Berlin press“ erscheinen.
„Worlding“ Love, Gender and Care — Shigeko Kubotas „Sexual Healing“
Dieser Beitrag wird sich mit Themen wie Liebe, Gender und Fürsorge im Kontext der Konstruktionen autorieller Subjektivität befassen, die für viele kollaborative Konstellationen des Fluxus-Netzwerks seit den frühen 1960er Jahren prägend waren. Als kunsthistorisch gerahmte Fallstudie wird die Videoarbeit „Sexual Healing“ (1998, 4:10 Min.) der japanischen Videokünstlerin Shigeko Kubota (1937–2015) betrachtet. Es handelt sich um ein verstörend intimes Dokument, das nicht nur Kubotas eigenes visuelles Archiv – treffend als Videotagebuch bezeichnet – motivisch und ästhetisch untersucht, sondern auch die gravierenden Unterschiede in der Art und Weise, wie Kubota und ihr Ehemann, der in Korea geborene Nam June Paik (1932–2006), kanonisiert wurden. Oft wurde schlichtweg unterschlagen, dass die beiden vier Jahrzehnte lang ein gemeinsames (der Kunst gewidmetes) Leben in Japan, Korea, Deutschland und den USA führten, und dass sie beide auf ihre Weise zu zwar unterschiedlichen, aber miteinander verwobenen Entwicklungen wie der aufkommenden Medienkunst und dem feministischen Diskurs beitrugen.
Die Videoarbeit mutet auffällig ambivalent an. Kubota bezeichnete sie als Ausdruck ihrer ungebrochenen Liebe und Fürsorge für einen alternden und kränkelnden, aber gut gelaunten Paik, der auch auf jüngere Frauen noch attraktiv wirkte. Allerdings ordnet sich die Arbeit keineswegs dieser einfachen Erzählung unter, sondern zeigt schonungslos, wie Paik sich mit Hilfe mehrerer junger Pflegerinnen in der Physiotherapie abmüht. Marvin Gayes namensgebender Popsong, der die Videoarbeit untermalt, dekonstruiert auf ironische Weise den angedeuteten „Sexappeal“ von Paiks halbseitig gelähmtem Körper, der buchstäblich nicht ohne Hilfe aufzustehen („get up, get up“) vermag. Diese ironische Haltung ist typisch für Kubotas früheste im Kontext von Fluxus entstandenen Arbeiten, in denen sie sich kritisch mit der Vorstellung von romantischer Liebe auseinandersetze und Klischees über den weiblichen Körper und Weiblichkeit hinterfragte. Allerdings spiegelt sich im Inhalt des Videos auch der äußerst sexistische Liedtext: Es ist wiederholt zu sehen, wie Paik unvermittelt seine Pflegerinnen küsst und sogar ohrfeigt, während diese sich – mehr oder weniger amüsiert – auf die körperlich anstrengende Arbeit konzentrieren, Paiks Gliedmaßen zu mobilisieren.
Die Verortung von Kubotas Spätwerk in dem Minenfeld, das die Fluxus-Kollaborationen oft darstellten – obwohl ihre Mitglieder das Ziel einer gleichberechtigten Zusammenarbeit bei der Verschmelzung von Leben und Kunst teilten–, gibt Anlass dazu, die kunsthistorische Kanonisierung zu überdenken, die von geschlechtsspezifischen, kulturellen und institutionellen Hierarchien und den seit langem bestehenden epistemologischen Grenzen der Disziplin geprägt ist. Was können wir aus den allzu persönlichen, peinlichen, übergriffigen, aber auch ironischen, berührenden und liebevollen Aspekten von „Sexual Healing“ lernen? Wie können wir den Kanon der (globalen) Kunstgeschichte auf persönlichere, intimere und transkulturelle Weise so umschreiben, dass wir in der Lage sind, „Affektstrukturen und […] verschiedene Wissensmodi jenseits unserer eigenen Forschungsgebiete zu erkennen – das Künstlerische, das Alltägliche und das Laienhafte“
Der Begriff „Worlding“ wird als Wortschöpfung benutzt, um mit der Komplexität von Globalität und Transnationalismus umzugehen. Dabei wird die problematische Limitierung anerkannt, die durch den Einfluss der eurozentristischen Perspektive entsteht. Diese beeinflusste die künstlerische Praxis sowie den weltweiten wissenschaftlichen Diskurs als Konsequenz imperialer und kolonialer Expansionen.
[1] Monica Juneja, ‘A very civil idea… Art history and transculturation with and beyond the nation,’ in Engaging Transculturality: Concepts, Key Terms, Case Studies, ed. Laila Abu-Er-Rub et al. (New York: Routledge, 2019), 293–316, 310.
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Sally Kawamura
Die Kunsthistorikerin Sally Kawamura forscht zu experimentellen Gemeinschaften im Japan der 1960er Jahre. In ihrer Dissertation „Object into Action: Group Ongaku and Fluxus“ (2009, University of Glasgow) befasste sich mit den Ursachen für die Parallelen und Querverbindungen zwischen der Avantgardepraxis in Japan, Europa und Amerika. Nach einer beruflichen Auszeit konzentriert sie sich auf die zeitgenössische japanische Kunst, insbesondere auf die Interaktionen zwischen experimentellen Gruppen im Japan der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts und auf der ganzen Welt. Sally veröffentlichte einen Artikel über Mieko Shiomi und ist assoziierte Forscherin des Projekts „Activating Fluxus“ der Berner Akademie der Künste.
Mieko Shiomi — Grenzen
Was ist eine Grenze? Und warum ist sie wichtig?
In den 1960er Jahren wurden die Konventionen der Kunst und Gesellschaft auf die Probe gestellt. Mieko Shiomi (1938–) und die radikale, freie Improvisationsgruppe Ongaku (Group Music, 1959–1962) aus Tokio loteten aus, welche Potenziale Musik im Bezug auf Klang-, Objekt- oder Aktionsformen besitzt. Dieser Ansatz brachte sie in Kontakt mit dem Fluxus-Netzwerk, woraufhin Shiomi in der Zeit von 1964–65 gemeinsam mit George Maciunas und anderen Fluxus-Künstler*innen ein Jahr in New York verbrachte.
In ihrer Arbeit setzt sie sich bis heute mit Grenzen auseinander, etwa mit denen zwischen Medien, dem Selbst und der Natur oder zwischen geografischen Gebieten. Außerdem regt sie uns dazu an, uns zu fragen, was eine Grenzlinie bedeutet. In ihrer „boundary music“ von 1963 weist sie die Interpretin an, „ihren Klang so unmerklich wie möglich zu einer Grenzbedingung zu machen, unabhängig davon, ob der Klang als Klang hervorgebracht wird oder nicht. Bei der Aufführung können Instrumente, menschliche Körper, elektronische Apparate und alle beliebigen anderen Dinge verwendet werden.“ Da beliebige Gegenstände zum Einsatz kommen können, scheint das Werk im strengen Sinne über keine Grenze zu verfügen. Die einzige Vorgabe lautet entsprechend, dass die Interpretin die klangliche Grenze festlegen muss.
Shiomis kollektive Arbeitsweise vermittelt zudem ein Gefühl der Unendlichkeit und der Freiheit. Geografische Grenzen werden in Frage gestellt und ihre Konzepte werden auf unzählige Arten interpretiert. Daher sollen die Reaktionen der Interpret*innen, die ihre Stücke aufgeführt haben, hinsichtlich der Frage der Grenzen in ihrem Werk im Rahmen dieses Beitrags näher betrachtet werden.
Darüber hinaus soll auch Shiomis eigenes Verständnis von Grenzen und Abgrenzungen ergründet werden. Eine zentrale Frage wird sein, was diese Aspekte für sie und ihre Praxis bedeuten und schließlich, welche Relevanz all das für ihr zeitgenössisches Publikum hat.
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Josephine Ellis
Josephine Ellis ist als Doktorandin am Forschungsprojekt „Activating Fluxus“ beteiligt, das vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert wird und das an das Institut Materialität in Kunst und Kultur HKB der Hochschule der Künste Bern, Schweiz, angeschlossen ist. Kürzlich erwarb sie ihren Master in Kunstgeschichte am University College London, England. Dafür forschte sie zur Materialität von Kunstwerken und Artefakten der 1960er und 70er Jahre sowie zur visuellen Kultur Südostasiens während des zweiten britischen Empire.
„Queering Grapefruit“ — Die Bedeutung des Materials im Werk von Yoko Ono
„Grapefruit„ (1964) wird in der Kunstgeschichte weithin als eines der Hauptwerke der Künstlerin Yoko Ono betrachtet. Seine charakteristische proto-konzeptuelle Ästhetik kam der „Entmaterialisierung des Kunstobjekts“ um einige Jahre zuvor. Gängige Lesarten von „Grapefruit“, ein Kunstwerk in Form eines Handbuchs, konzentrieren sich in erster Linie auf Onos Sprachgebrauch. Da sich diese Deutungen auf die textlich-konzeptionellen Elemente von Grapefruit beschränken, sind die materiellen Aspekte des Werks bisher weitgehend unberücksichtigt geblieben.
Dieser Beitrag legt dar, inwiefern die eingehende Betrachtung der Materialität – statt bloß der textlichen Ebene – von „Grapefruit“ aktuelle kunsthistorische Deutungen hinterfragen und bereichert. Bei der fortlaufenden Konstituierung des Werks werden in diesem Sinne insbesondere drei materielle Aspekte berücksichtigt: erstens die dreidimensionale Form des Buchs, zweitens die vielfältigen Buchformate der verschiedenen und mitunter einzigartigen Unikate, und schließlich die materiellen Begegnungen mit dem ausgestellten Werk in ihrem institutionellen Nachleben. Im Sinne des poststrukturalistischen Verständnisses von Identität als politischem Instrument – statt als innerer Essenz der Dinge – werden die vielfältigen Verkörperungen von „Grapefruit“ als eine Form des Widerstands gegen Interpretationsparadigmen verstanden, die im Werkzusammenstoßen. Anschließend wird die akademische Vernachlässigung der Stofflichkeit von Grapefruit auf die Tradition des westlichen Dualismus von Materie und Form zurückgeführt, einer binären Logik, in der die weiblich konnotierte Materie passiv und formbar, und damit der männlichen Formgebung unterworfen ist. Indem diese Binarität in Frage gestellt wird, gewinnt die Materialität von „Grapefruit“ ein performatives Potenzial für die Bedeutungskonstruktion des Kunstwerks. Dieses Potential ist wiederum nicht bloß in Onos Texten angelegt, sondern es entsteht auch durch die kollaborativen und kommunikativen Aushandlungen zwischen den Akteuren in der konservatorischen und kuratorischen Fürsorge . Das Hervorheben der variierenden, relationalen Kontinuität von „Grapefruit“ ermöglicht es dem Werk, in der Gegenwart offen zu bleiben. Darüber hinaus deutet diese Offenheit in Richtung eines multidisziplinären Ansatzes kunsthistorischer Methodik, die durchdrungen ist von zeitgenössischen Praktiken des Konservierens und des Ausstellens.
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Dorothee Richter
Dorothee Richter, PhD, ist Professorin für zeitgenössisches Kuratieren an der Zürcher Hochschule der Künste, wo sie 2005 den „CAS/ MAS in Curating“ gründete, sie ist Direktorin des PHD in „Practice in Curating“ an der University of Reading, sie ist geschäftsführende Herausgeberin von OnCurating.org und des „OnCurating Project Space“ in Zürich. Sie war von 1999 bis 2004 künstlerische Leiterin des Künstlerhauses Bremen und von 2003 bis 2008 Initiatorin mit Barnaby Drabble von „Curating Degree Zero Archive“, einem wandernden Archiv als Ausstellung. Sie ist Filmemacherin und realisierte „FluxUsNow, Fluxus explored with a camera“ gemeinsam mit Ronald Kolb, mit welchem sie auch die Workshopreihe „Curating on the Move“ entwickelte, oft zusammen mit „Small Projects for Coming Communities“.
Fluxus — Kunst gleich Leben?
Mythen um Autorschaft, Produktion, Geschlecht und Gemeinschaft
Fluxus wird heutzutage oftmals wieder auf einzelne individuelle KünstlerInnen reduziert, so sind Nam June Paik, Yoko Ono oder Joseph Beuys sehr bekannt. Die Fluxus Bewegung lebte jedoch von dem Zusammentreffen einer grossen lebendigen Gruppe radikaler KünstlerInnen, die experimentierten und Genregrenzen, sowie die Grenze zwischen Kunst und Leben niederrissen. Trotz der grossen Diversität der KünstlerInnen Gruppe, die sich aus KünstlerInnen verschiedenster kultureller und genrespezifischen ProtagonistInnen zusammensetzten, gab es Machtkämpfe und Zuschreibungen durch die Kunstgeschichtsschreibung. Es stellt sich daher die Frage, wie wir heute Fluxus lebendig halten können, wie können wir mit den radikalen Fragestellungen heute umgehen?
Was ist Fluxus, wer ist Fluxus, wann und wo war Fluxus? Es gibt kaum eine Kunstbewegung, deren nähere Bestimmung so schwer fällt. Diverse AutorInnen verweisen darauf, dass aus diesem Grund der Fluxus-Bewegung eine größere Bekanntheit und ein größerer Erfolg am Kunstmarkt verwehrt geblieben ist. Jedoch wirft auch schon die Vermutung Fragen auf: 1. War Fluxus überhaupt eine „Kunstbewegung“? 2. Wollten Fluxus-KünstlerInnen tatsächlich Erfolg am Kunstmarkt? Insofern erstaunt es nicht gerade, dass Eric Anderson, ein Fluxus-Künstler der ersten Stunde, noch 2008 behauptet hat, Fluxus habe es nie gegeben. Die divergierenden Äußerungen, die man heute als Fluxus bezeichnen würde, seien genauer unter dem Begriff Intermedia einzuordnen. Auch über die Gruppe der KünstlerInnen, die man als zu Fluxus gehörig oder auch nur mit Fluxus assoziiert bezeichnen könnte, besteht keine Einigkeit. Insofern bietet „Fluxus“ (was immer damit gemeint ist) eine hervorragende Vorlage, um Mythologeme und verschlungene Narrationen an den Begriff anzuheften. Zumal Aktionen und ephemere Objekte, Auflagenarbeiten und Zeitungen jene objekthafte kunstgeschichtliche Spur verkomplizieren, die traditionelle künstlerische Aktivitäten gewöhnlicherweise für die InterpretInnen legen. Dabei ersetzen einige Schlagwörter, die im Zusammenhang mit Fluxus häufig genannt werden, die traditionellen Kunstobjekte, sie funktionieren als Klammer für unterschiedliche Praktiken, Orte, Beteiligte und Relikte. Diese Schlagwörter gerinnen zu Quasibildern. Die Parole von „Kunst gleich Leben“ etwa ist ein besonders wirkungsvolles Wortbild, das im Kontext von Fluxus gerne genannt wird. Auch die Kombination von Kunst und Politik, Kunst und Alltag oder Aktion und Zufall findet häufig Erwähnung.
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Noor Mertens / Julia Lerch Zajączkowska
Noor Mertens (1984) leitet seit Sommer 2021 das Kunstmuseum Bochum. Bis Mai 2021 war sie Direktorin des Kunstvereins Langenhagen, wo sie Ausstellungen organisierte wie „Sie ist die Zukunft – Eine Ausstellung entflammt von Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven“ (2018) und „Christopher Knowles – These Are The Days“(2020). Sie studierte Musikwissenschaft und Kunstgeschichte in Utrecht und Amsterdam, wo sie 2011 ihre Diplomarbeit zum Begriff des „Dérive“ der situationistischen Internationale verfasste. Bis August 2016 war sie Kuratorin für moderne und zeitgenössische Kunst am Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam.
Julia Lerch Zajączkowska (1985) ist seit Juni 2022 am Kunstmuseum Bochum. Die Ausstellung von Takako Saito entwickelte sie in kurzer Zeit und enger Zusammenarbeit mit der Künstlerin sowie Noor Mertens. Der Ausstellung und Zusammenarbeit mit Takako Saito sind viele Haus- und Atelierbesuche sowie zahlreiche Briefe voraus gegangen. Zuvor war sie zusammen mit Roger M. Buergel und Sophia Prinz an der mehrjährigen Ausstellung „Mobile Welten“ im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg beteiligt, die unter anderem mögliche alternative Darstellungsweisen und Kontextualisierungen untersuchte um mit der eigenen Sammlung umzugehen in Zusammenarbeit mit Künstler*innen, Aktivist*innen und Expert*innen. Sie hat Kulturwissenschaften und Urban Design in Lüneburg und Hamburg studiert.
Pi-Pi-po, po — Ein Portrait von Takako Saito
Über einen schönen Zufall erhielt das Kunstmuseum Bochum im Sommer 2021 eine Schenkung von sechs Werken der Künstlerin Takako Saito durch ein Sammlerehepaar. Das in den 1970er Jahren in Bochum lebende Paar lernte Saitos Werk in der Galerie von Inge Baecker (damals vis-à-vis des Kunstmuseums) kennen und verbindet eine lebenslange Freundschaft mit der Künstlerin. Im selben Jahr erhielt das Kunstmuseum einen Teil des Nachlasses der verstorbenen Galeristin Inge Baecker mit einem bedeutenden Konvolut an Fluxus Kunstwerken (darunter Lil Picard, Geoffrey Hendricks, Wolf Vostell, Nam June Paik und Allan Kaprow). Im Dezember 2022 konnte das Museum weitere Werke von Takako Saito ankaufen, darunter vier Performancekleider und zwei Schachspiele. Dieser Zuwachs an Fluxus-Werken, bereichert die Sammlung des Kunstmuseums und ist Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit dem Werk der Künstlerin Takako Saito, deren Bedeutung für die Kunstlandschaft in NRW und Deutschland sowie Anlass der umfangreichen Einzelausstellung im Kunstmuseum Bochum (18.3.23 – 20.08.2023).
Takako Saito bringt das Leben in die Kunst und vice versa – die Kunst ins Leben. Sie gilt als eine der prägenden Künstler*innen der Fluxus Bewegung. Im Sinne von Fluxus und dem künstlerischen Eingriff in den Alltag mit einfachen, zugänglichen Mitteln, ist Takako Saito in der sie umgebenden Welt zu Hause. Davon zeugen ihre Lebensweise und ihr Umgang mit Mensch und Material. Und dennoch bleibt die Zuschreibung bzw. Zuordnung ihres Werks in die Kategorie „Fluxus“ unvollkommen, wie zum Beispiel ihre frühen Zeichnungen aus ihrer Zeit in Japan (1956-1964) zeigen. Die Ausstellung im Kunstmuseum Bochum ist ihren Freundschaften, Materialexperimenten und unerschöpflichen Werk gewidmet. Kunstwerke aus den späten 1950er-Jahren bis in die 2020er-Jahre erstrecken sich über das gesamte Erdgeschoss. Zu sehen sind neben Takako Saitos legendären Schachspielen und außergewöhnlichen Büchern, zum ersten Mal die schon erwähnten frühen Zeichnungen aus ihrer Zeit in Japan, Videodokumentationen ihrer Performances in Deutschland, Belgien und Italien (1988 – 2006) und die hierfür von ihr entworfenen Performancekleider, Klanginstallationen und Papierskulpturen. Die Aufhebung der Distanz zwischen Künstlerin und Publikum ist ein zentrales Anliegen Takako Saitos. Viele ihrer Kunstwerke laden zur Interaktion, zum Anfassen und zum Mitgestalten ein. Ihre Neugier und Begeisterung für materielle und zwischenmenschliche Prozesse – die Begegnung mit dem Publikum oder zwischen Bügeleisen und Papier – ist in ihrer Kunst eingeschrieben.
Takako Saitos Begeisterung hört nicht am Objekt, in der Performance oder der Zeichnung auf. Jedes Möbelstück, jedes Kissen, sogar Wände und Fußböden ihrer Wohnräume, hat die Künstlerin in den vergangenen vierzig Jahren selbst gestaltet. Einige dieser architektonischen und gestalterischen Elemente, wie die wellenförmigen Eingangsportale und Bodenarbeiten, wurden von den Schreiner*innen des Museums sowie von Künstler*innen im Auftrag Saitos für die Ausstellung nachempfunden. Das Prinzip ihrer Arbeit ist simpel und ansteckend, do it yourself oder besser do it together.
Pi ̶ Pi ̶ po, po, der von Takako Saito vorgeschlagene Titel der Ausstellung, beruht auf dem dadaistischen Prinzip einer unsinnigen Tonwortbildung, ohne jede Bedeutung. Je nachdem in welchem Rhythmus und auf welche Art ausgesprochen, entsteht eine eigene kleine Musik. „Oh… alles ist besonders, alles.“, endete ein Satz der Künstlerin 1976.
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Denise Wegener
Denise Wegener (M.A.), geb. 1993, studierte Kunstgeschichte, Anglistik sowie Kunstvermittlung und Kulturmanagement an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Von 2020 bis 2022 Volontärin am Museum Abteiberg Mönchengladbach im Rahmen des Programms „Forschungsvolontariate Kunstmuseen NRW“ (gefördert vom Land Nordrhein-Westfalen) mit Forschungsschwerpunkt zu Fluxus im Rheinland und SAMMLUNG/ARCHIV ANDERSCH. Seit Juli 2022 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Museum Abteiberg.
SAMMLUNG/ARCHIV ANDERSCH — Ein internationaler Fluxus-Knotenpunkt im Rheinland
Im Mai 1968 lernte der Sonderpädagoge Erik Andersch in Düsseldorf Dorothy Iannone und Daniel Spoerri kennen. In der Folge entwickelten sich zahlreiche Freundschaften zwischen Dorothee und Erik Andersch und Künstler*innen aus dem internationalen Fluxus-Umfeld sowie der rheinischen Kunstszene der Zeit. Es entstand ein den Fluxus-Begriff weitfassendes Netzwerk an Rhein und Ruhr, das unter anderem George Brecht, Robert und Marianne Filliou, Takako Saito aber auch André und Eva Thomkins sowie Hermann und Marietta Braun umfasste.
Künstler*innen und Unterstützer*innen lebten und arbeiteten in engem Kontakt zueinander und ließen mitunter konzeptuelle Ideen und Gedanken des Fluxus-Netzwerks der frühen 1960er Jahre wiederaufleben. Erik Andersch fing im Umfeld dieser Freund*innen an, neben deren aktuellsten Arbeiten und Manifestationen auch retrospektiv Materialien und Objekte zu Fluxus zu sammeln. Vor diesem Hintergrund erwuchs über die Jahre eine vielfältige Kollektion, die heute Beiträge von mehr als 50 Künstler*innen umfasst.
2017 entschloss sich Andersch seine Kollektion an das Museum Abteiberg zu geben, wo SAMMLUNG/ARCHIV ANDERSCH nun die ständige Sammlung um fundierte zeithistorische Zeugnisse ergänzt und zahlreiche Bestandslücken schließt. Hierzu zählen insbesondere weibliche Positionen wie Dorothy Iannone, Alison Knowles und Takako Saito. Während diese von den öffentlichen Institutionen oft übersehen wurden, nahmen private Förderer*Förderinnen wie Erik Andersch sie schon zu Beginn ihrer Sammeltätigkeit wahr und inkludierten deren Arbeiten in ihre Bestände.
Ein Schwerpunkt in SAMMLUNG/ARCHIV ANDERSCH bildet dabei das Oeuvre von Takako Saito. Ab 1964 nahm Saito in New York zunehmend an Fluxus-Aktionen teil, assistierte George Maciunas bei der Herstellung verschiedener Multiples und entwickelte durch dessen Anregung ihre ersten verfremdeten Schachspiele. Nach Ende ihres Visums ging Saito nach Europa, wo das von Erik Andersch betriebene Studentenwohnheim wie auch das Wohnhaus der Familie Andersch immer wieder eine Anlaufstelle waren. Das Format der Schachspiele behielt Takako Saito auch in Europa bei und adaptierte es auf vielfältige Weise.
Durch die Verfremdung gewohnter Spielfiguren und das Einbeziehen der Sinneswahrnehmung regen Takako Saitos Objekte die Kreativität der Spieler*innen an. So wie Fluxus die Aufhebung kunsthistorischer Gattungsgrenzen und dadurch eine Modifizierung bestehender gesellschaftlicher, politischer und sozialer Strukturen intendierte, brechen Takako Saitos spielerische Editionen strenge Regelwerke und hierarchische Denkweisen auf. Das Spiel ist zugleich Kunstobjekt und gemeinschaftliche Aktion, an der sich jede*r beteiligen kann.
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Elke Allgaier
Elke Allgaier ist Kuratorin und leitet den Bereich Archive der Staatsgalerie Stuttgart: das Fluxusarchiv Sohm, Archiv Oskar Schlemmer, Archiv Will Grohmann und den Kunsttheoretischen Nachlass von Adolf Hölzel. Studium der Kunstgeschichte in Freiburg im Breisgau (M.A.) und Zürich (Dr.).
“Ich bin nicht auf der Suche nach einem Goldfisch…” — Künstlerinnen im Netzwerk des Archiv Sohm
Mit dem Erwerb des Archiv Sohm besitzt die Staatsgalerie Stuttgart seit 1981 einen einzigartigen Bestand zur Intermediakunst, speziell zu Fluxus, Happening, Beat, Underground, Wiener Aktionismus und Konkreter Poesie. Die Anfänge des Archivs gehen auf den ehemals in Münchingen und Markgröningen bei Stuttgart beheimateten Zahnarzt Hanns Sohm zurück.
Parallel mit dem Aufkommen der Fluxusbewegung baute er bereits zu Anfang der 1960er Jahre seine Sammlung auf. Sein Archiv war nicht einfach nur ein Depot für überliefernswerte Zeugnisse, sondern mehr. So wie die Fluxusbewegung im Grunde die Auflösung von Grenzen und Kategorien vorantrieb, so war auch sein Archiv ein alternativer Ort, der sich kontinuierlich im „Flux“ bewegte: Schon der Archivgründer organisierte innovative Präsentationsformen und epochale Ausstellungen, beispielsweise die ‚Dokumentationsstrasse‘ in Köln 1970/71 oder das Projekt des ‚Flux-Shops‘ im Jahr 1973. Während die Motivation, Intention und kuratorische Arbeit am Archiv beleuchtet wird, stellt sich immer drängender die Frage, welche Rolle den Netzwerkerinnen und Künstlerinnen zukommt.
In einem Werkstattbericht gibt der Beitrag einen dezidierten Einblick in die Funktionsweise des Archivs im Wandel der lokalen, regionalen und internationalen Netzwerkcommunities. Besonders spannend sind mitunter die bislang nicht so erforschten weiblichen Positionen. Wenn aus den Archivalien beispielsweise hervorgeht, dass eine Künstlerin in einem Brief mehr Aufmerksamkeit einfordert und schreibt: „Ich bin nicht auf der Suche nach einem Goldfisch…“, dann spiegelt das eine Erwartungshaltung nach mehr Möglichkeiten der Mitwirkung und Gestaltung. Doch welchen Spielraum hat eine Archivinstitution, um den sehr geschätzten Künstlerinnen wie z.B. Charlotte Moorman, Yoko Ono, Mieko Shiomi oder Shigeko Kubota – oder auch Fotografinnen wie beispielsweise Susanne Esche von Stuttgart aus mehr Geltung zu verschaffen? Welche Möglichkeiten eröffnen sich heute, 60 Jahre nach Gründung des Archivs? Zur Diskussion soll auch die aktuell in der Staatsgalerie präsentierte Ausstellung zum Werk von Alison Knowlesgestellt werden
(„Alison Knowles. Sound and Space.“ Eine Ausstellung in The Gällery, Staatsgalerie Stuttgart, bis 09.07.2023).
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Andrea Giunta
Andrea Giunta ist Autorin, Kuratorin und Forscherin am „National Scientific and Technical Research Council“ (CONICET) in Argentinien und Professorin an der Universität in Buenos Aires. Sie kuratierte die León Ferraris Retrospektive (Buenos Aires, Centro Cultural Recoleta (CCR), 2004; Pinacoteca de São Paulo, 2006), war Ko-Kuratorin von „Verboamérica“ (Museo de Arte Latinoamericano (MALBA), Buenos Aires, 2016) sowie von „Radical Women. Latin American Art, 1960–1985″(Hammer Museum, LA; Brooklyn Museum, NY; Pinacoteca de São Paulo, 2017–18). 2020 war sie Chefkuratorin der zwölften Biennale in Mercosul, „Feminine(s). Visualities, Actions y Affects“ (Porto Alegre, Brasilien). Zu ihren jüngsten Veröffentlichungen zählen „Feminismo y arte latinoamericano“ (Siglo XXI, 2018), „Contra el canon“ (Siglo XXI, 2020), Rethinking Everything (delpire&co, 2021) und „The Political Body. Stories on Art, Feminism, and Emancipation in Latin America Art“ (UCPress, 2023).
Esther Ferrer und Fluxus-Feminismus
Als wir das Gröbste der Pandemie gerade überstanden hatten, kuratierte ich, trotz der mit dieser Zeit verbundenen Unwägbarkeiten, in Buenos Aires eine Ausstellung der 1937 in San Sebastian geborenen Esther Ferrer. Offen gesagt war es eine willkommene Gelegenheit, ihre Werke im Raum zu zeigen, was mir einige Monate zuvor nicht möglich gewesen war. Als Kuratorin der Porto Alegre Biennale 12 hatte ich mich angesichts des Lockdowns entschieden, die Schau online statt im physischen Ausstellungsraum zu realisieren. Das Werk von Esther Ferrer, einer Künstlerin, die seit 1967 über John Cage und die Zaj-Gruppe direkt mit Fluxus in Verbindung stand, wird kunsthistorisch nicht direkt der Fluxus-Konstellation zugeordnet. Gemeinsam mit Yoko Ono, Carole Schneemann und Shigeko Kubota entwickelte Esther Ferrer jedoch eine umfassende Performance-Reihe, die sich mit der Agenda des Feminismus auseinandersetzt. In diesem Beitrag möchte ich aufzeigen, inwieweit ein frühes und zentrales Werk von Esther Ferrer, Silla Zaj (1974), auch als der Zaj-Stuhl bezeichnet, aufgrund der Überzeugungen der Künstlerin als Ausdruck eines feministischen Aktivismus gedeutet wurde. Der Silla Zaj ist ein vielseitiges, geometrisches und minimalistisches Werk, mit dem Esther Ferrer eine außergewöhnliche visuelle, konzeptionelle und politische Intervention gelang, die maßgeblich von dem feministischen Aktivismus in Spanien und Argentinien beeinflusst wurde.
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Julia Elizabeth Neal
Julia Elizabeth Neal ist Assistenzprofessorin für moderne und zeitgenössische Kunst an der University of Michigan. In ihrer Forschung beschäftigt sich Neal mit den Schnittstellen zwischen dem Visuellen, der Identitätspolitik und dem (Trans-)Nationalismus seit der Nachkriegszeit. In ihrem aktuellen Buchprojekt, das den Arbeitstitel „Benjamin Patterson: Art and Critical Praxis“ trägt, beschäftigt sie sich mit der intermedialen Praxis des Künstlers. Ihre Forschung wurde unterstützt von der deutsch-amerikanischen Fulbright-Kommission, dem Getty Research Institute und der Terra Foundation for American Art. 2021 erschien der von Neal mitverfasste Band „Performance Works within the State of Benjamin Patterson: A Catalogue Raisonné Volume I.“
Akte der Anerkennung — „Lick Piece“ und der weibliche Körper im Fluxus
Am 9. Mai 1964 posierte Letty Eisenhauer nackt und übergossen mit Schlagsahne, die nach und nach auf ihrer Haut schmolz und gerann, während männliche Performer die Sahne mit ihren Händen und Zungen von der Oberfläche ihres Körpers verzehrten. Eisenhauer, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits als Mitwirkende bei experimentellen Performances wie Happenings einen Namen gemacht hatte, verkörperte hier einen objektivierten weiblichen Körper und damit die Objektivierung von Frauen durch das Patriarchat, wie sie sich durch die gesamte Kunstgeschichte der Moderne zieht. Ihre Teilnahme als einwilligungsfähige Erwachsene war von zentraler Bedeutung für Benjamin Pattersons „Lick Piece“ (1961), einer Performance-Partitur, in der die Darstellenden angewiesen wurden:
„eine wohlgeformte Frau mit Schlagsahne zu bedecken, abzulecken .. .ein Topping aus geriebenen Nüssen und Kirschen ist optional.“
Dieser Beitrag befasst sich mit den multiplen Überresten von Pattersons sexuell aufgeladener Performance, die vorläufig eines komplexen Moments von als unangemessen und anstößig wahrgenommener Albernheit im Jahr 1964 rekonstruiert. „Lick Piece“ steht für mehr als nur die Ablehnung oder Unterwanderung sexueller Tabus in Bezug auf Sex zwischen schwarzen Männern und weißen Frauen. Pattersons „Lick Piece“ stellt vielmehr einen neuartigen Versuch des Künstlers dar, die Grenzen der Repräsentation und des Konsums als ein grundlegendes Problem der westlichen Kunst herauszustellen. „Lick Piece“ wurde in der 359 Canal Street aufgeführt, einem wichtigen Zentrum von Fluxus in New York City, und es thematisiert die Spannungen zwischen Chaos und Kontrolle, Spektakel und Simultaneität, Absurdität und Rationalität. Bis heute beruht das Narrativ der Arbeit auf einer einzigen Fotografie, die nicht unter Pattersons künstlerischer Regie entstanden ist. Daher werden zusätzliche Archivdokumente herangezogen, um die performative Entfaltung der Arbeit nachzuvollziehen. Darüber hinaus wird aufgezeigt, inwiefern abgewandelte Versionen von Pattersons „Lick Piece“ in seinen und in den Werken anderer Performancekünstler*innen weiterleben, um die Mehrdimensionalität des Stücks zu verdeutlichen.
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Kerstin Krautwig
Kerstin Krautwig studierte Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Angewandte Theaterwissenschaften in Gießen, Marburg und Thessaloniki. 2010 wurde sie mit einer Arbeit zum Werk Mary Bauermeisters an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main von Frau Prof. Dr. Regine Prange promoviert. Nach Stationen am Frankfurter Städel und der Sammlung der Deutschen Bank kuratierte sie für das Wilhelm-Hack-Museum in Ludwigshafen eine große Ausstellung zum Werk Bauermeisters („Welten in der Schachtel“) und beschäftigte sich im Rahmen der Aufarbeitung der Sammlung Heinz Beck mit dem Phänomen des Auflagenobjektes und seiner Rolle für das Erstarken des deutschen Kunstmarktes nach 1945 („Gut aufgelegt – die Sammlung Heinz Beck“). Mit dem“event score als Paradigma der Intermedia-Produktion in den 1960er-Jahren“ beschäftigte sie sich im Rahmen der Tagung „Intermedialität von Bild und Musik“, die 2012 von Gregor Wedekind in Mainz veranstaltet wurde. Ihren Lehrauftrag an der Frankfurter Städelschule schloss sie 2013 mit dem Vortrag „It started with a postcard: The event score and its redefinition of the categories ‚artwork‘ and ‚aesthetic border'“ ab. Für die Frankfurter Yoko Ono Retrospektive verfasste sie 2013 den Artikel „Yoko Ono zwischen den Künsten“. Für die Zeitschrift „kunstforum international“ entstand 2015 der Aufsatz „Die Kunstverweigerung endet in den Armen der Kunst. Fluxus als Ausgangspunkt späterer Verweigerungsstrategien“. 2021/22 war sie als Projektmanagerin für den „Wiesbadener Kunstsommer 2022 – 60 Jahre Fluxus“ verantwortlich. Der Fokus des Festivals lag auf dem Thema „Frauen und Fluxus“. Für das Wiesbadener Kunsthaus kuratierte sie als Festivalbeitrag die Ausstellung „Cello im Eisbad. Charlotte Moorman und Nam June Paik“. Seit Juni 2022 betreut Kerstin Krautwig als Kuratorin das Kupferstichkabinett (mit reichem Fluxus-Bestand) und das Duchamp-Forschungszentrum am Staatlichen Museum Schwerin.
Die Jacke Kunst weiter dehnen — Hommage an Mary Bauermeister
Bauermeister unterhielt zwischen 1960 und 1962 ein Atelier in Köln und veranstaltete dort Konzerte und Happenings, die heute als proto-Fluxus-Veranstaltungen betitelt werden. An diesen Veranstaltungen nahmen Fluxuskünstler wie Ben Patterson und Nam June Paik teil (und auch John Cage, der ein wichtiger Vorläufer war). Bauermeister selbst wirkte an einem Happening namens „Originale“ mit, das Karlheinz Stockhausen Anfang der 1960er-Jahre für das Kölner Theater am Dom schrieb und inszenierte. 1963 ging sie nach New York, wo sie sich sehr schnell auf dem Kunstmarkt etablieren konnte. Sie vermittelte Paik eine „uptown gallery“ und bemühte sich sehr, allen Künstler*innen aus ihrem europäischen Netzwerk zu helfen, die in New York Fuß fassen wollten. Ihr ganzes Leben lang hat sie sich vor allem für junge Künstlerinnen eingesetzt und sie an Galerien und Museen weitervermittelt. Ein wichtiges Thema im Leben Mary Bauermeisters, die alleinerziehend 4 Kinder zu versorgen hatte, ist die Vereinbarkeit der Rollen Künstlerin und Mutter.