Jahresrückblick: 2023 im Dortmunder U
Im Dortmunder U treffen Vergangenheit und Zukunft aufeinander. Die „Fliegenden Bilder“ Adolf Winkelmanns, die scheinbar schwerelos auf dem Dach des alten Brauereiturms über große LED-Panels schweben, zeigen den Menschen Tag für Tag: Die Zeit steht hier niemals still. Und das galt dieses Jahr fast mehr denn je. Schon der Auftakt ins Jahr 2023 stand im Dortmunder U ganz im Zeichen einer Kunstgattung, die heute wie keine andere, neue Wege in die Zukunft weist: der Medienkunst.
In der Sonderausstellung „Nam June Paik: I Expose the Music“ zeigte das Museum Ostwall von März bis August im Dortmunder U eine große Retrospektive des koreanisch-amerikanischen Künstlers Nam June Paik, der als Pionier der Video- und Medienkunst gilt. Rund 100 Arbeiten waren zu sehen, darunter Installationen, Skulpturen, Audio- und Videoarbeiten, Partituren, Handlungsanweisungen, Konzepte, Fotodokumente und Plakate.
Pionier der Medienkunst: Nam June Paik
Einen besonderen Fokus legte „Nam June Paik: I Expose the Music“ auf das musikalische und performative Element in Paiks Werk, der sich einst als „the world´s most famous bad pianist“ bezeichnete. Die Magie des Live-Moments bewegte Paik sein Leben lang und zieht sich durch sein Werk – und durch die Ausstellung. „Nam June Paik: I Expose Music“ ermöglichte den Besucher*innen einen eindrucksvollen Einblick in die Arbeit des Medienkunst-Pioniers und veranschaulichte, wie er Publikum und Raum aktiv in seine Performances einbezog.
Höhepunkt der Einzelschau und zum ersten Mal in Deutschland zu sehen: Paiks raumgreifende Installation „Sistine Chapel“ von 1993. Sie gilt als frühes Beispiel multimedialer Immersion, die es Ausstellungsbesucher*innen erlaubt, in das Kunstwerk einzutauchen. Für „Sistine Chapel“ entwarf Paik eine Konstruktion aus Beamern, die den ganzen Raum in ein Kaleidoskop aus für Paik typischen Bildern der Pop- und Kulturgeschichte verwandelt.
Zum ersten Mal in Deutschland: „Sistine Chapel“
In ihrer ganzen Bildgewalt wirkt „Sistine Chapel“ wie eine moderne Reinkarnation der Sixtinischen Kapelle. So wie auch Michelangelos Meisterwerk in Rom hat Nam Junes Paiks Werk seitdem kaum an Strahlkraft verloren, und das, obwohl sich die Medienkunst in den letzten Jahren – auch aufgrund des technischen Fortschritts – rasant weiterentwickelt hat.
In der Ausstellung „We grow, grow and grow, we’re gonna be alright and this is our show“ von Jana Kerima Stolzer und Lex Rütten konnten die Besucher*innen im Hartware MedienkunstVerein von März bis Juli hautnah erleben, wo die zeitgenössische Medienkunst heute steht.
Medienkunst heute: ein radikaler Perspektivwechsel
Die beiden Dortmunder Medienkünstler*innen spekulierten über existierende und kommende Symbiosen zwischen Mikroorganismen, Pflanzen, Tieren, Bakterien, Pilzen und technischen Objekten. Und das mithilfe eines radikalen Perspektivwechsels: Betrachtet wurde die Welt aus der Sicht nicht-menschlicher Lebewesen, denen wir üblicherweise kein Bewusstsein zusprechen. Diesen Wesen und Dingen verliehen Stolzer und Rütten buchstäblich eine Stimme und verwandelten sie in sprechende und singende Character.
Das junge Medienkünstler-Duo schöpfte dabei die volle Bandbreite seines Kunstgenres aus. Mit VR-Brillen konnten die Besucher*innen zum Beispiel durch die unterirdische Welt des fiktiven Wesens „Xtract“ reisen, das von der Entstehung, Entdeckung und vom Abbau der Steinkohle im Ruhrgebiet berichtete.
Immersion: Reisen in andere Welten
Virtuelle Realitäten, Animationen und Filme verschmolzen in verschiedenen Installationen mit Raum und Objekten: etwa in einem echten Gewächshaus, in dem man den Character „Symbiotechnica“ und die Pflanzengattung der Orchideen auf ihrem Weg begleiten konnte, raus aus ihrer natürlichen Heimat in den Urwäldern der Philippinen, rein in die hermetische Massenproduktion heutiger botanischer Aufzuchtfabriken.
Die Ausstellung „We grow, grow and grow, we’re gonna be alright and this is our show“ war die erste institutionelle Einzelausstellung von Jana Kerima Stolzer und Lex Rütten und ließ erahnen, dass sowohl dem jungen Künstlerduo als auch der Medienkunst im Allgemeinen noch eine vielversprechende Reise bevorsteht.
Expressionismus neu betrachtet
„Vergangenheit trifft Zukunft“ ist ebenfalls das Motiv der zweiten Sonderausstellung „Expressionismus hier und jetzt! Die Sammlung Horn zu Gast in Dortmund“ des Museums Ostwall, die noch bis zum 18. Februar 2024 zu sehen ist. Hier treten mehr als 120 bedeutende Werke des Expressionismus in den Dialog mit zeitgenössischer Kunst. Die Werke von wegweisenden Künstler*innen wie Alexej von Jawlensky, Käthe Kollwitz, der Künstlervereinigung Brücke und Christian Rohlfs stammen aus der renommierte Sammlung Bettina und Rolf Horn und sind erstmals in Dortmund zu sehen.
Hinterfragt wird in der Gruppenschau das Verhältnis zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus einem heutigen Blickwinkel, vor allem aber auch aus einer dekolonialen Perspektive. Mit Arbeiten von Anguezomo Mba Bikoro, Lisa Hilli, Natasha A. Kelly, Moses März und Luiza Prado zeigt das Museum Ostwall aktuelle Sichtweisen auf den „Expressionismus hier und jetzt!“
Modernismus made in Osteuropa
Die Vergangenheit hinterfragen – das möchte auch die aktuelle Ausstellung des Hartware MedienKunstvereins, „Was ist Kunst, IRWIN?“, die noch bis 28. Januar 2024 läuft. Die Ausstellung zeigt Arbeiten des slowenischen Künstlerkollektiv IRWIN, das sich vor 40 Jahren gründete. IRWIN beschäftigt sich mit der Kunstgeschichte Osteuropas, speziell mit dem ambivalenten Erbe der historischen Avantgarde und ihren totalitären Nachfolgern, also mit der Dialektik von Avantgarde und Totalitarismus. Dem „westlichen Modernismus“ stellen sie verspielt und abgründig einen retroavantgardistischen „östlichen Modernismus“ gegenüber.
Kunst-Reisepässe für alle!
Hierfür gründeten IRWIN sogar einen eigenen fiktiven Staat, den „NSK Staat in der Zeit“ – ein Staat ohne Territorium, aber mit (mehr oder weniger) echten Reisepässen als „confirmation of temporal space“, die sich auch die Besucher*innen der Ausstellung im HMKV ausstellen lassen können.
Was hat Kunst mit unserem Alltag zu tun? Diese Frage stellt seit Ende April die neue Sammlungspräsentation im Museum Ostwall: „Kunst –> Leben –> Kunst. Das Museum Ostwall gestern, heute, morgen“ zeigt eine Auswahl von Werken der MO_Sammlung und beleuchtet, wie Gründungsdirektorin Leonie Reygers mit ihrer Museumsarbeit das Alltagsleben in der Region Dortmund gestalten wollte, wie sich die Künstler*innen der MO_Fluxus-Sammlung vom Alltagsleben inspirieren ließen, welche Rolle Autodidakt*innen und Kunstlaien dabei spielten und wie gesellschaftliche Debatten die MO_Sammlungspolitik von den 1950er-Jahren bis heute prägen.
Wie Kunst den Alltag beeinflusst – und der Alltag die Kunst
In verschiedenen Exkursen gewährt das MO auch einen Blick hinter die Kulissen und zeigt, wie sich Kunst und Leben im Arbeitsalltag der MO_Mitarbeiter*innen verbinden. Was macht eine Restauratorin? Wie reist ein Gemälde nach London? Und welche Rolle spielt die Kunstvermittlung im MO?
Und auch kulturpolitisch geht es zur Sache: Im Rahmen von „Kunst –> Leben –> Kunst“ ergründet ein vom MO-Team gegründeter und aus den verschiedensten Menschen bestehender Beirat, welche Erwartungen Besucher*innen an das Museum haben, welche Kunst sie sich wünschen und welche Rolle das MO im Alltagsleben der Dortmunder*innen spielt.
Von drinnen nach draußen
Aus dem Alltag rauskommen – das konnten die Besucher*innen von Anfang Juni bis Ende August auf der Leonie-Reygers-Terrasse beim „Sommer am U“, der 2023 zum zehnten Mal stattfand (den Film dazu findet ihr hier). Das Motto auch dieses Jahr: Kultur von drinnen nach draußen bringen, sie sichtbar machen und für jeden zugänglich. Im Rahmen des Festivals auf dem Vorplatz des Dortmunder U kamen nicht nur die diversen Künstler*innen aus der Region zusammen, sondern auch die verschiedensten Besucher*innen, Menschen jeden Alters und aus der ganzen Gesellschaft. Gerade in Zeiten der zunehmenden Spaltung brachte der „Sommer am U“ erneut den Beweis: Kultur verbindet.
Nachts im Museum
Nach draußen ging es auch während der Dortmunder Kulturmeile im Mai. Neben dem Dortmunder U luden Kulturinstitutionen wie beispielsweise das „Museum für Kunst und Kulturgeschichte“, der „Dortmunder Kunstverein“ oder das „domicil“ die Dortmunder*innen zu einem kulturellen Spaziergang durch die Innenstadt ein.
Die Stadt und ihre Museen erkunden konnten die Besucher*innen in der 23. DEW21-Museumsnacht im September. Drinnen waren alle Ausstellungen des Dortmunder U bis in die Nacht hinein geöffnet und draußen wurde die Fassade mit einem aufwändigem 3D-Mapping bestrahlt, welches das Äußere des U-Turms zum Leben erweckte. Das Mapping entstand in Kooperation zwischen der StoryLab kiU der FH Dortmund und dem Koproduktionslabor des Dortmunder U.
Von der Kunst der Kollaboration
Wo wir schon beim programmatischen Schwerpunkt des Dortmunder U im Jahr 2023 wären: Kooperation und kollektive Kunsterfahrung. Beides gehört seit jeher zur DNA des Hauses. Die Partner*innen des Dortmunder U finden regelmäßig zu gemeinsamen Projekten zusammen. Im Jahr 2023 war Kooperation jedoch nicht nur eine Methode, sondern ein Motto und Motiv: Auf jeder Ebene beschäftigen sich die Macher*innen im Dortmunder U aktiv mit der Kunst der Kollaboration.
Welchen Mehrwert haben Kollektive? Ist Kollaboration das Modell für die Zukunft? Und welche Erfahrungen haben Generationen früher damit gemacht? Nicht nur ergänzten sich die Ausstellungen der verschiedenen Etagen thematisch, die Partner*innen des Dortmunder U kuratierten diverse Reihen wie den „Familiensonntag“ oder den „Kleinen Freitag“ gemeinsam.
Die geballte Kraft der uzwei-Workshops
Rund ums „Mitmachen“ drehte sich im Jahr 2023 das Programm der uzwei. Zwischen Kurzfilmen und Konsolenspielen, Manga-Zeichnungen und selbst produzierten Tracks präsentierte die zweite Etage in der Ausstellung „Konfetti“ die geballte Kraft der uzwei-Workshops. Die jungen Teilnehmer*innen hatten sich auch dieses Jahr in den unterschiedlichsten Bereichen ausprobieren können: ob Filmproduktion, Fotografie, Virtual Reality, Augmented Reality oder Gaming.
Im Rahmen der Ausstellung „Unbeschwert“ gingen elf junge Künstler*innen zwischen 16 und 21 Jahren der Frage nach, ob und wie man „Leichtigkeit“ ausstellen kann. Es entstanden interaktive Installationen, die das wunderbare Gefühl der Unbeschwertheit für die Besucher*innen hautnah erfahrbar machten.
Die Kunst von morgen schon heute bestaunen
In der Ausstellung „Emerging Artists V“ bietet die „uzwei“ in Kooperation mit dem „Dortmunder Kunstverein“ noch bis 28. Januar jungen Talenten aus der Kunst- und Kulturszene die Chance sich und ihre Arbeit zu präsentieren. Ausgestellt werden Werke von acht bildenden Künstler*innen aus Dortmund, die von einer Fachjury ausgewählt wurden.
Fazit
Das Jahr 2023 im Dortmunder U war so vielseitig wie die verschiedenen Etagen des U-Turms selbst. Zu sehen waren alte Malerei und hochmoderne immersive Räume. Werke aus den Pionierzeiten der Medienkunst und die zeitgenössischen Experimente ihrer neuen Avant-Garde. Die künstlerische Betrachtung unseres scheinbar banalen Alltags und die künstlerische Erforschung komplexer Symbiosen von Tieren, Bakterien und Pilzen. Weltbekannte Klassiker der Moderne und die junge Kunst aufstrebender regionaler Künstler*innen. Ausstellungen der ganz Großen und Workshops für ganz Kleine. Drinnen und draußen. Vergangenheit und Zukunft.
Das Dortmunder U bleibt immer in Bewegung – und das auch im nächsten Jahr!
Autor: Philip Michael