Reflexionen von Raumhierarchien: Kapwani Kiwanga stellt im MO_Schaufenster aus
Im Alltag sind wir von durchkomponierten Räumen umgeben. Welche Geschichten und Begründungen dahinterstecken, ist kaum bekannt. Die Künstlerin Kapwani Kiwanga (geboren 1978 in Hamilton, Kanada) recherchiert zu diesen Geschichten.
Vom 26. Mai bis 6. August präsentiert das Museum Ostwall im MO_Schaufenster Arbeiten, in denen Kapwani Kiwanga ihr Augenmerk auf die Inszenierung von Design und Architektur in öffentlichen Räumen wie Krankenhäuern, Schulen oder Gefängnissen legt.
Ihre Arbeiten sind Ergebnisse einer intensiven künstlerischen Recherche. Historisch orientiert sich Kiwanga an marginalisierten oder vergessenen Geschichten und politischen Ereignissen. Dabei bezieht sich die Künstlerin auf Farbtheorien aus dem 19. und 20. Jahrhundert, die an diesen Orten noch heute als Teil versteckter autoritärer Strukturen und Machtasymmetrien Einfluss auf die Wahrnehmung und das Verhalten nehmen.
„Meine Arbeit ist eine Einladung, einen Raum der Reflexion und Kontemplation zu eröffnen, einen Raum, der das weitergibt, was ich durch Recherche und Befragung eines bestimmten Themas, Gefühls oder einer Situation herausgefunden haben könnte“, sagt Kapwani Kiwanga über ihr Werk.
Linear Paintings
Für das Konzept der Arbeit „Linear Paintings“ bezieht sich die Künstlerin u.a. auf Schriften von Assata Shakur, einer bedeutenden „Black Panther“-Aktivistin, die rassistische Gewalt in den USA der 1960er- bis 70er-Jahre verhandelt. Im Zusammenhang eines Gefängnisaufenthalts beschreibt Shakur eine Wand einerseits als Objekt, das geschaffen wurde und wieder abgerissen werden kann, anderseits als eine metaphorische Form von Ausgrenzung und struktureller Gewalt.
Kiwangas „Linear Paintings“ bestehen aus mehreren gleichgroßen, zweifarbigen Gipskartons, die wie Leinwände auf Holzrahmen gespannt sind. Sie werden auf unterschiedlicher Höhe an die Wand gehängt. Auf der Höhe von exakt 160 cm befindet sich eine feine horizontale Linie, die sich durch die verschiedenen Bildträger zieht. In Museen ist diese Höhe zur Norm geworden, damit sich das Bild möglichst auf Augenhöhe der Besucher*innen befindet. In der öffentlichen Gesundheitsvorsorge markiert sie die Stelle an der Wand, die Reinigung benötigt: Unterhalb ist eine Übertragung von Krankheitserregern wahrscheinlicher, weswegen dieser Bereich nach einem Vorschlag aus dem Jahr 1905 in einer abwaschbaren Farbe gestrichen werden sollte.
Das Farbprinzip der „Linear Paintings“ wiederum bezieht sich auf das „U.S. Coast Guard Paint and Color Manual“ von 1952/1965. Darin setzte sich der Verfasser Faber Birren intensiv mit den Effekten von Farbe auf den Menschen auseinander. Viele seiner Theorien gehören mittlerweile zum unhinterfragten Standard der Farbpsychologie.
Birrens Farbspezifikationsplan wird noch heute von der US-Regierung verwendet. Spezifische Farben sollen dabei Auswirkungen auf die Sicherheit, Arbeitsmoral, Produktivität und den Umsatz haben und so das menschliche Verhalten steuern.
500ft
In der Soundinstallation „500ft“ („500 Fuß“) erläutert Kiwanga mit ruhiger Stimme fragmentarisch historische Hintergründe zur Gestaltung von Gefängnissen oder Krankenhäusern, zur Hygienebewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Europa oder zur Architektur der Moderne und ihren Auswirkungen auf städtebauliche Experimente in den ehemaligen Kolonien. Ihnen gemeinsam sind die Überthemen von Überwachung und Ausgrenzung. Der Titel bezieht sich auf einen Abstand, der auf der internationalen Konferenz zur kolonialen Stadtplanung 1931 in Paris vorgeschlagen wurde und einheimische Viertel von denen der Kolonisatoren trennen sollte.
Am Beispiel des Farbtons „Baker-Miller Pink“ berichtet Kiwanga, wie in einem Militärgefängnis in Seattle 1979 ganze Zellen in pink gestrichen wurden, um eine beruhigende Wirkung zu erzielen.
A Primer
Die Videoarbeit „A Primer“ zeigt Szenen verschiedener Farbkombinationen, bei denen sich die Proportionen, Farben und Materialien immer wieder verändern und neu- bzw. rekombinieren. „A Primer“ bedeutet eine Grundierung. Sie ist als erste Schicht dazu da, den Grund für eine weitere Bearbeitung vorzubereiten. Meist ist eine Grundierung an der Oberfläche nicht sichtbar, hat aber strukturelle Auswirkungen auf diese.
Zur Künstlerin
Kapwani Kiwanga studierte Anthropologie und vergleichende Religionswissenschaften an der McGill University in Montreal sowie Kunst an der École des Beaux-Arts de Paris. Sie hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u.a. den Zürich Art Price (2022), den Prix Marcel Duchamp (2020), den Frieze Artist Award sowie den Sobey Art Award (2018). Große Einzelausstellungen waren und sind im Haus der Kunst, München (2020), New Museum, New York (2022), MOCA, Toronto (2023) und dem Kunstmuseum Wolfsburg (2023) zu sehen. 2024 wird sie den Kanadischen Pavillon auf der Biennale di Venezia bespielen. Sie lebt und arbeitet in Paris.
Autor/in: Katrin Pinetzki