„Klare Kante!“ Sektion #1: Es geht alles seinen Gang?

Es läuft! Es geht gut. Warum soll man denn klare Kante zeigen?

Während man diese Frage aus dem eigenen Radius verbannt, kreist man um die gewohnte Vorstellung des Lebens.

Ausstellungsansicht "Klare Kante!" (Foto: Mareen Meyer)
Ausstellungsansicht „Klare Kante!“ (Foto: Mareen Meyer)

Der Kreis hat als geometrische Form ohne Anfang und Ende keine Ecken und Kanten. Er geht von einer Mitte aus, die meinen eigenen Standpunkt bestimmt. Er lässt sich vertikal in zwei symmetrische Hälften – in meine Welt und die der ,anderen‘ – und horizontal in ein Oben und ein Unten einteilen. Eine Weltkarte, so sah es der Universalgelehrte Albertus Magnus bereits im 13. Jahrhundert, kennt kein ,oben‘ und ,unten‘, denn beides befindet sich gleichermaßen in der Mitte der Erdkugel. Deren eindimensionale Darstellung auf einem Bildträger richtete man damals in der Regel nach Osten – dem sogenannten ,Orient‘ – und nicht nach Norden aus, wovon sich der noch heute geläufige Begriff der ,Orientierung‘ ableitet.

Oft fehlt die Orientierung im Teufelskreis persönlicher Gedanken und Erlebnisse, die auch die physische Gesundheit beeinträchtigen können. Die Orientierung fehlt oft im Hamsterrad und in den endlosen Kreisläufen des Lebens sowie in den Zwängen sozialer Gruppen. Eine Gruppe kann aber auch Halt in Grenzsituationen bedeuten und treibender Motor sein, wie das Herz als Organ, das für die Gesundheit und das Wohlbefinden verantwortlich ist. Phasen der Erholung und Anspannung lösen einander ab.

Ist es nicht manchmal auch gut, dass etwas seinen Gang geht?

Ausstellungsansicht "Klare Kante!" (Foto: Mareen Meyer)
Ausstellungsansicht „Klare Kante!“ (Foto: Mareen Meyer)

Im Irrgarten des Lebens, den Jürgen Umlauff als Weg mit scharfen Kanten inszeniert, finden wir oft den Ausgang nicht, da wir viel zu sehr um uns selbst kreisen. Wir vergessen, dass wir nur ein winziger Bestandteil des Universums sind, während die Planeten ihre Kreisbahnen ziehen, die Petra Pauen auf ihrem Diptychon der universellen Grenzüberschreitung visualisiert.

Diese macht auch Monika Meinold bewusst, deren Schreibe sich im Rhythmus des Jahres dreht. Sie konfrontiert uns mit der Machtlosig­keit, die wir empfinden, wenn uns das Wort im Mund herumgedreht wird. Den Meinungsplura­lismus versinnbildlicht Klaus Kaufmann, dessen rostige Nägel für den verbogenen Menschen stehen, der sich nicht mehr traut, offen seinen Standpunkt zu zeigen, und der sich in einen Schutzraum einspinnt. Sonja Heller erforscht die Ränder dieses Kokons, deren weiche Harmonie zur scharfen Kante werden kann. In seinem Inneren entsteht neues Leben, das Karina Cooper als menschlichen Embryo im Alter von vier Wochen zeigt.

Ausstellungsansicht "Klare Kante!" (Foto: Mareen Meyer)
Ausstellungsansicht „Klare Kante!“ (Foto: Mareen Meyer)

Den Antrieb des Lebens, das Herz, isoliert Sylvia Jäger vom Gesamtorganismus, ohne den es zum Sterben verurteilt ist, der Analogie des Schlafes. Den Schlaf interpretiert Era Freidzon als Suche nach den Spuren der Erinnerung und dem eigenen Ursprung, die für Andrea Kraft im Nucleus der Familie liegt. Deren Mitglieder scheinen orga­nisch miteinander verbunden, die Individualität des Einzelnen bleibt aber auf der Strecke.

Das eigene Tempo im Alltag und in der Arbeit zu finden, gelingt nicht immer, wie Lukas Lenzing und Johanna Sarah Schlenk mit Blick auf das Gefangensein im Rad als Mensch, Arbeiter und User feststellen. Auch in der sozialen Medien­welt agieren wir oft in routinierten Mustern. Kerstin Phoa thematisiert in ihrem Werk die Sprachlosigkeit einer Generation.

So viele Kommunikationswege wie heute standen in der Zeit, in der man Mitteilungen ausschließlich auf Papier schrieb, noch nicht derart offen. Die Wiederverwendung des Papiers in Recycling­verfahren ist eine Errungenschaft der heutigen Zeit, die Marina Skepner als eine Art der Philosophie empfindet.

Ein Objekt dem Kreis­lauf wieder zuzuführen bedeutet, zukunfts­orientiert zu handeln und damit auch gegen das völlige Verschwinden anzugehen. Zweimal überflutete ein Hochwasser das Atelier der Künstlerin Karin Jessen, die die zerstörten Bilder als Basis für neue, farbenfrohe Werke wieder lebendig werden ließ.

Autorin: Dr. Natalie Gutgesell