„Klare Kante!“ Sektion 3: Ihr könnt doch auch mal was tun

Es läuft manchmal doch nicht so gut. Ich will es vor anderen aber nicht zugeben.

Ich warte darauf, dass andere zuerst aufstehen. Ich schütze mich hinter der Maske der kollektiven Identität. Man will klare Kante zeigen, indem man lieber nicht aneckt. Unter dem Schutzmantel der Gruppe treffen Menschen aufeinander, die mich an dem teilhaben lassen, was ihnen passiert ist. Man stellt fest, dass alle mehr oder weniger einen gemeinsamen Ausgangspunkt haben: den Verlust des eigenen Ursprungs.

Das Verlieren des Vertrauten verbindet sich mit schwierigen Entscheidungen und dem Lösen der Fesseln, aber auch mit Entwurzelung und Verletzung. Im Laufe des Lebens häuft man vieles an und praktiziert das Sammeln dabei unbewusst, wie ein Ritual gegen das Vergessen. Eindrücke, Objekte und persönliche Bedeutung versucht man, wie in einer Wunderkammer zu konservieren. Man vergisst dabei, dass ein Ding oder ein Begriff immer mehrere Bedeutungen in sich bergen kann.

Vieles lässt sich im direkten Kontakt mit betroffenen Menschen besser nachvollziehen. Man kann klare Kante zeigen, indem man einfach nur zuhört und versucht, den anderen Menschen in der jeweiligen Situation zu verstehen. Die Besinnung auf sich selbst vernetzt sich mit der Besinnung auf das Gemeinsame. Der offene Austausch über das Trennende ist gleichzeitig verbindend, auch wenn mir der Sachverhalt der vermeintlich ,Anderen‘ als nicht nachvollziehbare Sehnsucht erscheint.

Wonach sehnt ihr euch?  

In diesem Prozess macht Ute Hoeschens Relief aus aufgenähten PET­Flaschen ein lebensbedrohliches Problem bewusst: den Umgang mit dem Wasser. Die Wasserknappheit und den Plastikmüll in den Ozeanen führt uns Tina van de Weyer, das Schmelzen der Glet­scher Sabine Odensaß und das Fischsterben Almut Rybarsch-Tarry plastisch vor Augen. Käthe Loup spricht – bei all diesen bedrohlichen Szenarien – die therapeutische Kraft des Mee­res und Annette Kristiansen die beruhigende Wirkung der geradlinigen Welle an. Elisabeth Schink verkörpert die Natur als Verbindungs­linie zwischen Mensch, Tier und Pflanze, deren Symbolkraft Christoph Mandera zum Mahnmal für den Frieden erhebt. Karl-Ulrich Peisker verknüpft Rot und Grün zu einem verantwor­tungsvollen Miteinander der Kulturen, das häufig durch kriegerische Handlungen gespalten wird, die Menschen, wie Andreas Rzadkowskys Soldaten und Hartwig Reinboths Demons­tranten, zu ungewollten Reaktionen zwingen. Man wird unweigerlich zu Mustern der eigenen Verteidigung gedrängt. Risse spalten die eigene Identität, wie die durch Sabine Helsper-Müller visualisierte Spannung, in der Gerda Zuleger mutig für die von sexueller Ausbeutung betrof­fenen Frauen eintritt. Ein Mittel der Verteidigung ist der Schutzpanzer, den Christiane Crewett-Bauser aus unterschiedlichen Patronen wob, und Michelle Gallagher in farbenfroher Hoff­nung modellierte.

Manchmal bauen sich Mauern zwischen Men­schen nahezu von selbst auf, deren unbewusste Kanten Heide Möller bewusst macht. Sie erscheinen für Herbert Linden für gemeinsame Kompromisse unbedingt notwendig. Diese erwünschte Idealsituation lässt sich oft unmög­lich wieder herstellen, nachdem man auf der Flucht alles verloren hat. Marziyeh Abbas Zadeh zeigt in ihren Mosaiken unterschiedliche Emotionen in den Gesichtern der Frauen. Davoud Sarfaraz konfrontiert uns durch seine zarte Frauengestalt mit Folter und Verletzung der Menschenrechte im Iran und Afghanistan.

Im Verlust der eigenen Identität und des Lebensraumes scheint sich auch Jan Backhaus in einer fragmentierten Umwelt ratlos zu bewegen. Aus dieser sammelt Elisabeth Brosterhus Relikte der Vergangenheit in einer archäologischen Laborsituation und Anja Schindler in einem Kuriositätenkabinett an. Das, was einem lieb und teuer ist, hängt vom eigenen Blickwinkel ab, der stets aus einer anderen Richtung betrachtet werden sollte, wofür Patrick Alexander Deventer plädiert.

Text: Dr. Natalie Gutgesell