„Klare Kante!“ Sektion 5: Sie sprechen sich aus

Sie setzen sich zusammen und sprechen sich aus. – Gibt’s wohl was zu reden?

,Sich aussprechen‘ beinhaltet nicht nur die Bereitschaft, nach einem Konflikt wieder miteinander in Kontakt zu treten und sich zu versöhnen. Die Bandbreite der Bedeutungen des reflexiven Verbs beinhaltet auch, dass man klare Kante beweist. Man spricht sich für etwas aus, setzt sich für etwas ein und bezieht Stellung für gesellschaftliche Belange. Diese werden durch das Zulassen der Leere, die Trauer und das manchmal nicht Erklärbare durchdrungen.

Sprechen wir uns aus für freie Denkräume, die maßvolle Gestaltung des Lebensraums, das Innehalten, die Spiritualität, die Symbiose des Lichts mit dem Schatten und den respektvollen Erhalt der individuellen und kollektiven Freiheit.

Die Freiheit galt Jeanne d’Arc als höchstes Gut. Die starke junge Frau griff im 15. Jahrhundert in einen nationalen Konflikt – den Hundertjährigen Krieg – ein und ließ dafür ihr eigenes Leben. Zu Lebzeiten wurde sie durch den König, für dessen Sache sie kämpfte, im Stich gelassen, später aber als Galionsfigur von unterschiedlichen politischen Richtungen instrumentalisiert.

Seine eigene differenzierte und ausgewogene Meinung zu äußern und etablieren, erfordert klare Kante. Das Eintreten für soziales Wohlbefinden ist nicht möglich ohne klare Kante. Oft traut man sich nicht, über Erlebtes zu reden. Vieles staut sich jahrelang auf und belastet. Beweisen wir klare Kante und suchen das offene Gespräch mit den Menschen, die es direkt betrifft!

Wann hast du dich das letzte Mal mit jemandem ausgesprochen?

Aus der Möglichkeit der Vielfalt sprachlicher Äußerungen ergibt sich der Begriff der ,alterna­tiven Fakten‘, die Harald Klemm aus einer huma­nistischen und Michael Wittassek aus einer dokumentarischen Perspektive heraus unter­suchen. Die Erhaltung der Freiheit der Wahrheit personifiziert Peter Kosch durch Jeanne d’Arc. Die Freiheit nimmt man sich in Interpretations­spielräumen bewusst heraus, worauf Liselotte Bombitzki mit einem Vers aus der russischen Folklore anspielt, der zum Schlachtruf aus­artete. Bernd Figgemeier setzt dem klare Frie­denszeichen entgegen.

Angelika Richter blickt zurück auf die Luftverschmutzung im Ruhr­gebiet in ihrer Kindheit. Holger Zimmermann thematisiert das Auftauen des Permafrosts, das zum Klimawandel beiträgt.

Rainer Lehmann klagt das Social Scoring – die Bewertung des Menschen in der Gesellschaft –, Ali Reza Javadi den Umgang mit den Datenschutzge­setzen und Anett Hoffmann die Anonymität des urbanen Raums an, in dem sich Grundlegen­des unter der Oberfläche verbirgt.

Brigitte Baldaufs Schwamm speichert Wasserstoff als innovativer schöpferischer Akt, den Elena Degenhardt durch ihre Darstellung des Hellen und Dunklen visualisiert. Mark Hellmann führt deren ambivalentes Verhältnis zusammen.

Jae Jin Park erschafft einen Lichtraum, der aus sich selbst heraus existiert, dessen Anpassung an veränderte Lebensbedingungen Eva Mathes betont. Das durch Götz Sambale erschaffene Skulpturen paar repräsentiert natürliche Geset­ze gewachsener Form in Auseinandersetzung mit der Modifikation des Raumes, in dem man existiert.

In Ingeborg Thistles Gemälde pulsiert die Bewegung der Dynamik und Lebendigkeit, die Gabi Deckers in der Corona­Zeit zwang, aus alten Bildern neue zu erschaffen. Material­knappheit kann nach Patricia Roßhoff-Roy auch für das Entstehen spontaner Glücksemp­findung verantwortlich sein, die Joanna Stange kraftvoll freisetzt. Aus dieser Energie heraus lässt Willi Reiche aus Relikten ausrangierter Bügelmaschinen ein Denkmal für die Arbeit und Petra Wittka ein Denkmal für den Menschen entstehen, dessen Innenleben mehr zu bieten hat als die kalte Fassade eines Mannequins. Er ist vor allem ein geistiges und spirituelles Wesen, wie dies Susanne Beringer betont.

Die Gedanken sind frei, wie Sporen des Löwen­zahns, die Bärbel Thier-Jaspert entsendet. Sie ergeben nach Niteen Gupte im Gewebe des gemeinsamen Texts ein individuelles Eigenleben sowie eine kollektive Verknüpfung.

Text: Dr. Natalie Gutgesell