Jana Kerima Stolzer & Lex Rütten – We grow, grow and grow, we‘re gonna be alright and this is our show

Einleitungstext von Kuratorin Dr. Inke Arns

„Schon bald wird es so sein
Als hätte es uns nie gegeben
Und die Welt liegt kahl und leer
Wie nach einem großen Beben
Es gibt keine Menschen mehr
Auch das ist nicht weiter schlimm
Denn wir waren ohne Frage
Für das Weltall kein Gewinn“

(Rocko Schamoni, Als hätte es uns nie gegeben)

„We grow, grow and grow, we‘re gonna be alright and this is our show“. Keyvisual. Gestaltung: eot. Berlin.

Der Ausstellungstitel „We grow, grow and grow, we’re gonna be alright and this is our show“ ist ambivalent – wer ist dieses „wir“, das da stetig wächst? Sind es gar „wir“, eine Gesellschaft, die sich nur in permanentem Wirtschaftswachstum imaginieren und reproduzieren kann? Um welches (und wessen) Wachstum geht es, ökonomisches oder persönliches Wachstum – oder gar Selbstoptimierung? Und wieso werden „wir“ alle OK sein, woher kommt diese Zuversicht? Auf welcher Grundlage? Wessen Ausstellung ist das hier? Wer spricht?

Weder sprechen „wir“, noch sprechen die Künstler*innen. Die multimediale Ausstellung „We grow, grow and grow, we’re gonna be alright and this is our show“ vollzieht vielmehr einen radikalen Perspektivwechsel: Sie betrachtet die Welt aus der Sicht nicht-menschlicher Organismen, denen wir üblicherweise kein Bewusstsein zusprechen. Diesen Wesen und Dingen geben die Künstler*innen eine Stimme: Sie artikulieren sich durch die sieben fiktionalen Charaktere Micro, Xtract, Pionea, Azolla, Symbiotechnica, Extinct und Hydra. Mit ihrer Hilfe spekulieren Jana Kerima Stolzer und Lex Rütten über vergangene, gegenwärtige und kommende Symbiosen zwischen Mikroorganismen, Pflanzen, Tieren, Bakterien, Pilzen und technischen Objekten. Es geht um neuartige Kreisläufe und Allianzen in der Natur – im Zeitalter des Anthropozäns, und weit darüber hinaus.

„We grow, grow and grow, we‘re gonna be alright and this is our show“. Ausstellungsansicht. Foto: Jannis Wiebusch.

So sprechen im Ausstellungstitel zum Beispiel Algenfarne, auch bekannt als Azolla. Diese waren vor 49 Millionen Jahren für das sogenannte „Azolla-Ereignis“ verantwortlich. Durch die Massenvermehrung dieses Superorganismus im Arktischen Ozean – „we grow, grow and grow“ –, sein Absterben, Absinken und seine Sedimentierung wurde sehr viel Kohlendioxid aus der Atmosphäre gebunden. Dies führte im Eozän zur Abkühlung des globalen Klimas und damit letztendlich in die heute noch herrschende Kaltzeit. Teile der sedimentierten Algenfarn-Schichten wurden über Jahrmillionen zu Gesteinsschichten und zu Erdöl und Kohle. Mit der Kontinentaldrift wurden diese über die Erde verteilt: „Kontinente brachen auseinander, versanken, reisten über den Globus“ (Xtract). Durch die mit der Industrialisierung einsetzende Verbrennung fossiler Energieträger wird das gebundene Kohlendioxyd wieder freisetzt und trägt so zum Klimawandel bei.

Jana Kerima Stolzer & Lex Rütten „Azolla“ (2023). Foto: Jannis Wiebusch.


Der Charakter Xtract, der offensichtlich Jahrmillionen alt ist, berichtet genau davon: von geologischen Tiefenzeiten, Extraktivismus, der Geschichte des Steinkohlebergbaus und – der Hexenverfolgung, auch hier im Ruhrgebiet. Denn „die Jagd nach den Schätzen der Erde eröffnete gleichzeitig die Jagd nach allen, die die Schätze hüteten.“

Jana Kerima Stolzer & Lex Rütten „Xtract“ (2022). Foto: Jannis Wiebusch.

Pionea wiederum spricht über Pionierpflanzen, invasive Arten und Neophyten. Nicht nur nach Vulkanausbrüchen, sondern auch auf Industriehalden finden diese mutigen Siedler, diese „schönen Exoten“, ideale Lebensbedingungen: „Wir sind hart im Nehmen“. Die Superpflanze Azolla, eine Symbiose aus Farn und Cyanobakterium, wird vom Bundesamt für Naturschutz übrigens als „eingebürgerter Neophyt“ geführt.

Jana Kerima Stolzer & Lex Rütten „Pionea“ (2023). Foto: Jannis Wiebusch.

Überhaupt sind Symbiosen zentral für das Thema dieser Ausstellung: Die US-amerikanische Biologin Lynn Margulis hat Symbiosen einmal als „Lichtblitze der Evolution“ bezeichnet. Lynn Margulis (1938-2011) war Professorin für Biologie an der University of Massachusetts in Amherst und Co-Direktorin des Planetary Biology Internship der NASA. 1999 erhielt sie die „National Medal of Science“ für den Nachweis, dass viele der kleinen Zellorgane ursprünglich frei lebende Bakterien waren. Vor vielen Jahrmillionen wurden sie von anderen Bakterien verschluckt – aber nicht verdaut. Stattdessen kombinierten sie ihr genetisches Wissen zum gegenseitigen Vorteil und leiteten so entscheidende Sprünge in der Evolution ein. Margulis belegt, dass mehrzelliges, „höheres“ Leben einst vor Milliarden Jahren nicht im Krieg aller gegen alle, sondern nur durch Kooperation und Symbiose der frühen Organismen entstand. Weil dies zwar nicht Charles Darwins Theorie, aber den neo-darwinistischen Vorstellungen von „egoistischen Genen“ zuwiderlief, dauerte es Jahrzehnte, bis Lynn Margulis‘ Entdeckungen als Fakten anerkannt wurden.

Weiter geht die (Zeit-)Reise in der Ausstellung zu den Mikrokosmen der verschiedenen Wesen. Da diese Wesen in vielen der Videos singen, erscheint es fast so, als würden wir uns durch ein im Raum verteiltes Musical bewegen. Extinct berichtet von der technisch gestützten Wiedererweckung ausgestorbener Arten. Es imaginiert die verschwundenen Arten als mythologische Wesen und irrlichternde Geister zugleich: „Tausende Wesen, erinnert als Licht, finden wir unsere Ruhe dort, woher wir kamen. Ausgehend von Organischer Materie wurden wir jetzt zu allem, was um uns ist. Biomasse, Teilchen, Licht, Erinnerung.“ Und weiter: „Nun wandeln wir bei Nacht, Erinnerung an das, was war. Die Geister jener, die keinen Platz mehr fanden.“

Jana Kerima Stolzer & Lex Rütten „Extinct“ (2023). Foto: Jannis Wiebusch.

Die drei letzten Wesen – Symbiotechnica, Micro und Hydra – sind eher in einer spekulativen Zukunft angesiedelt. Symbiotechnica berichtet im Setting eines Gewächshauses – einer kleinen künstlichen Biosphäre – von menschlichen Allmachtsfantasien und dem Glauben an die technische Herstellbarkeit einer künstlichen Natur. Mittels Geoengineering soll die toxisch gewordene große Biosphäre (die Erde) wieder bewohnbar gemacht werden: „Tausende Flugzeuge könnten in die Stratosphäre starten und Schwefeldioxid verteilen. Das aufhalten, was verursacht wurde. Der Himmel würde von nun an milchig leuchten, der Niederschlag abnehmen, die Luftströme sich wandeln. Eine neue Biosphäre, geprägt durch die sie Bewohnenden. Man könnte das Meer mit Eisen düngen, um das Algenwachstum anzukurbeln. Diese würden das CO2 in der Atmosphäre binden. Man könnten riesige Flächen bewalden, damit uns die Bäume helfen, die Luft zu reinigen.“ Symbiotechnica erzählt auch von den Arten, die nur dank des Einsatzes von Technik an bestimmten Standorten überleben können. Eine solche Spezies ist z.B. der Mensch im Ruhrgebiet. Ohne die Pumpen, die das aufsteigende Grundwasser aus den Schächten der Kohlebergwerke abpumpen, wäre das Gebiet unbewohnbar („Ewigkeitsschäden“). Symbiotechnica fragt nach dem nächsten Schritt: Kann die Natur die Technik integrieren, also selbst betreiben?

Jana Kerima Stolzer & Lex Rütten „Symbiotechnia“ (2023). Foto: Jannis Wiebusch.

Micro wiederumerzählt von der Technosphäre und der zentralen Rolle, die Symbiosen für die Evolution haben. Ausgehend von Bakterien, Pilzen und Mikroorganismen, die die glatten Oberflächen unserer Handys bevölkern, imaginiert Micro einen neuartigen Superorganismus, der in enger symbiotischer Beziehung mit unseren technischen Geräten lebt. Er ernährt sich von menschlichem Schweiß, absorbiert Strahlung und Elektrosmog und wärmt sich an den Stromkreisen der technischen Infrastrukturen. Gleichzeitig verändert er durch seinen organischen Einfluss die anorganische Technosphäre (den zukünftigen Elektroschrott) und erweitert diese in ein bewohnbares Habitat, eine technologische Biosphäre.

Jana Kerima Stolzer & Lex Rütten, „Micro“ (2023). Foto: Jannis Wiebusch.

Hydra schließlich berichtet von Korallen, Unsterblichkeit, Knospung, Klonung und dem Traum vom ewigen Leben. Die „tropischen Korallenriffe [sind] die größten, von Lebewesen erzeugten Strukturen auf unserem Planeten“ (Bernhard Kegel). Sie sind aus dem Weltall sichtbar. Hydra imaginiert Korallen als einen kollektiven, vielköpfigen Organismus, der unsterblich ist, weil sich die „pluripotenten“ Zellen des Polypen zeitlich unbegrenzt regenerieren können. „In diesem kleinen Ding“, so Stolzer und Rütten, „steckt der große Traum“ – des ewigen Lebens.

Jana Kerima Stolzer & Lex Rütten „Hydra“ (2023). Foto: Jannis Wiebusch.

Der radikale Perspektivwechsel, der sich in dieser Ausstellung zeigt, macht unsere Umwelt und die uns umgebenden (Mikro-)Organismen zu den Protagonist*innen. Die Ausstellung vollzieht somit eine Dezentrierung des Subjektes (d.h. der Mensch steht nicht mehr im Mittelpunkt), die eventuell noch radikaler ist als die des Poststrukturalismus. In der Ausstellung begegnen uns bunte, fast poppige und Comic-hafte Ästhetiken. Die Wesen, die uns in den sechs Videos und in der VR-Arbeit begegnen, wecken ob ihrer Winzigkeit und ihres kindlichen Gesangs unsere Beschützerinstinkte und unsere Empathie. Alle Videos bestehen aus einer Mischung aus 3D-Scans und realen Aufnahmen – und aus diesen generiert sich jeweils ein spezifisches Muster, das einer Erzählung bzw. einem Wesen zugeordnet wird.

Das Magazin enthält neben einer Fotodokumentation der Ausstellung einen neuen Essay von Salome Rodeck sowie kurze enzyklopädische Texte bzw. Textauszüge zu den sieben Wesen von Johann Brandstetter & Josef H. Reichholf (Hydra), Jörn Etzold (Xtract), Christiane Heibach (Symbiotechnica), Bernd Heinrich (Extinct), Bernhard Kegel (Pionea), Lynn Margulis (Azolla) und Ludger Weß (Micro). In der Ausstellung lädt ein Leseraum zur Lektüre weiterführender Publikationen ein. Die Literaturliste findet sich am Ende dieses Magazins.

Aber noch einmal zurück zum Titel der Ausstellung: „We grow, grow and grow, we’re gonna be alright and this is our show“ könnte auch von den Bakterien stammen, die alles überleben werden. Angesichts des Klimawandels empfiehlt Lynn Margulis nämlich Gelassenheit: „Wir können der Natur kein Ende setzen, sondern nur zu einer Bedrohung für uns selbst werden.“[1] Egal wie das Klima wird, „die Bakterien werden gedeihen,“ sie werden uns überdauern, „sie werden kooperieren und dabei irgendwann sicher neue Innovationen erzeugen, so das Fazit der Biologin.“[2] Das ist ein tröstliches Ende – wenn auch nicht aus menschlicher Perspektive. Es wird immer weiter gehen – absehbar aber in einer „Welt ohne uns“.[3]

Der Text wurde von Dr. Inke Arns (HMKV-Direktorin und Kuratorin der Ausstellung) für das Ausstellungsmagazin verfasst. Das Magazin kann hier im Bookshop des HMKV und beim Verlag Kettler hier erworben werden.


[1] Lynn Margulis, Der symbiotische Planet oder wie die Evolution wirklich verlief, Frankfurt/Main: Westend Verlag, 2018, S. xx

[2] Volkart Wildermuth, „Bakterien werden alles überleben“, Deutschlandfunk Kultur, 2. März 2018, https://www.deutschlandfunkkultur.de/lynn-margulis-der-symbiotische-planet-bakterien-werden-100.html (2.2.2023).

[3] Die Welt Ohne Uns: Erzählungen über das Zeitalter der nicht-menschlichen Akteure war der Titel einer von Inke Arns kuratierten Ausstellung, die 2016-17 im HMKV Hartware MedienKunstVerein in Dortmund und 2017 in Kooperation mit Aksioma – Institute for Contemporary Art, Ljubljana, in der Vžigalica Gallery / Museum and Galleries of Ljubljana, Slowenien, und im Mali Salon / Museum of Modern and Contemporary Art, Rijeka, Kroatien, stattfand.


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Ausstellungsfilm „Jana Kerima Stolzer & Lex Rütten – We grow, grow and grow, we‘re gonna be alright and this is our show“